16.05.2022

Das Wochenende war überfüllt mit beruflichen und privaten Aktionen. Ich dachte, es würde mich auch ein wenig von meinem Rauschbedürfnis ablenken, was zeitweise auch gut funktionierte.

Freitags Kurse, Samstags Auftritte und einen Stand am Bühler ‚Stadtfest‘, abends das Treffen mit meinem Ex und das Hineinfeiern in seinen Geburtstag, am nächsten Tag ein gemeinsames Frühstück, anschließend ein Spaziergang durch Bühl mit abschließendem Eis essen und ab dem Nachmittag wieder Kurse. Abends dann noch ein längeres Telefonat mit einem lieben Kollegen. Vor mir ein Weinglas mit Tonic, alkoholfreiem Sanbitter und einer Scheibe Orange. 2 Zigaretten. Ich trinke das Glas ebenso schnell leer, wie die Rotwein-Gläser zuvor. Aber es stellt sich kein beruhigendes Gefühl ein- natürlich nicht! Ich lausche an diesem Wochenende allen Gesprächen sehr konzentriert. Zwischendurch grätscht immer mal wieder der Gedanke an diesen angenehm alkoholisierten Zustand in mein Hirn. Ich schiebe ihn nervös weg, er rutscht manchmal kurz zurück und ich versuche mich zusammenzureißen. Diese Störungen sind ein wenig anstrengend, da ich mich immer wieder neu bei meinem Gesprächspartner einfinden muss.

Irgendwie bin ich ja doch alleine mit meiner Situation. Trotz dieses Blogs und trotz des Wissens, dass da draußen tausend Andere in der möglicherweise gleichen Lage sind. Und trotz des Frage und Antwort Spiels, welches nur ein kleiner interessierter Teil mit mir durchführt. Die meisten meiden das Thema, als ob sie mich schonen wollten. Oder aus eigener Unsicherheit. Möglicherweise aber auch aus verständlichem Desinteresse.

Heute war um 17:30 Uhr eine Gruppenstunde in Baden-Baden, die mir die nette junge Suchtberaterin empfohlen hatte. Der Termin steht noch immer dick in meinem Kalender und leuchtete mir schon seit heute morgen ständig hoffnungsvoll entgegen. Nach meinen morgendlichen Kursen bin ich in der Tanzschule geblieben um alle Aufgaben und Vorbereitungen für den Rest des Tages zu erledigen. Um 19:00 Uhr musste ich spätestens wieder zu meinen Abend-Kursen in der Tanzschule sein. Wenn ich um 17:00 Uhr losfuhr, wäre ich rechtzeitig bei der Gruppenstunde, die aber möglichst nicht länger als 1Std. dauern durfte, sonst wäre ich zu knapp dran. Einkaufen musste ich auch noch. Ich rief noch schnell in der Beratungsstelle an, um nachzufragen, ob ich wirklich einfach so vorbeikommen könnte. Die nette Dame teilte mir mit, dass der Kurs schon recht voll wäre, mich aber der Gruppenleiter zurückrufen würde. Ich ließ das Handy nun nicht mehr außer Reichweite. Dieser Termin war mir wichtiger, als ich es vermutet hätte. Endlich ein Austausch mit eventuellen Gefühls-Verwandten. Menschen, denen ich mich irgendwie verbunden fühlen könnte. Die mir zu dem Wissen: ‚Ich bin nicht alleine‘ nun auch das Gefühl geben würden- möglicherweise.

Ich hetzte durch durchs Kaufland, fuhr nach Hause und machte mir ein paar Wraps mit Gemüse. Während dem Essen lag das Handy dicht neben mir und ich kontrollierte ständig, ob nicht doch jemand angerufen hatte. Nichts! Ich wählte wieder die Nummer der Beratungsstelle und nun verkündete ein Anrufbeantworter die inzwischen abgelaufenen Büro-Sprechzeiten. Es war kurz vor 17:00 Uhr.

Ich spürte die Enttäuschung. Es würde heute niemand mehr anrufen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich im Stich gelassen, verloren, alleine. Ich wusste, dass mir diese Emotionen nicht zustanden, aber ich hatte sie.

Ich griff zu meinen Kopfhörern, stöpselte sie in mein Handy, legte mich raus in die Sonne und googelte nach Erfahrungs-Berichten und Interviews ehemaliger Alkoholiker. Ich blieb bei einer Doku des NDR hängen: Alkohol: Erfolgreiche Frauen und die Sucht.

Ich würde mich nicht unbedingt als erfolgreiche Frau beschreiben und dennoch sprach mit der Titel und im Verlauf auch die Doku durchaus an. Auch Nathalie Stüben und Schauspielerin Mimi Fiedler berichten hier über ihre Erlebnisse mit dem Alkohol. Über ihre und somit auch meine Krankheit.

Ich legte den Kopf zurück, schloss die Augen und lauschte Worten, die ich selbst hätte sprechen können. Ich nickte, wenn sie über ihr – nein, unser – Versteckspiel in der Gesellschaft sprachen. Ich verstand den Wunsch sich nach einem schweren Tag zu ‚belohnen‘ und das gleichzeitige Bedürfnis nicht mehr denken und fühlen, sondern einfach abtauchen zu wollen. Ich war ein ‚WIR‘. Die gleichen Gedanken, die gleichen Erfahrungen, die gleichen Tränen. Wie gerne hätte ich genau solche Menschen heute live getroffen.

Ich fühlte mich etwas besser. Der Tag würde irgendwann kommen.

Die anschließende Zumba und auch die nachfolgende Showdance-Stunde liefen gut. Später saß ich mit meinen Mädels noch zusammen und wir quatschten natürlich auch kurz über das Alkohol-Thema. Ich habe sie alle sehr gerne, aber sie können mich nicht hören. Weil ich hier trotz meiner vielen Wort stumm bin.

Aus meiner momentanen Sicht ist man auf dem Weg in die Freiheit letztlich alleine. Ich denke aber, dass Therapie-Stunden – in welcher Form auch immer – sicherlich unterstützen können. Darauf zu hoffen und sich dabei zu sehr darauf zu stützen macht das Gerüst jedoch sehr wackelig.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich Wege alleine gehe. Das bedeutet nicht, dass ich Unterstützung ablehne. Aber ich fühle mich unabhängiger, wenn ich nicht mit ihr rechne. Und somit auch irgendwie sicherer. Ein ‚WIR‘ bedeutet ja nicht zwangsläufig die gleiche Reise oder das gleiche Ziel.

Wenn du deinen Weg alleine gehst, kann dich auch niemand auf Abwege führen.