21.06.23
Gestern Abend wollte ich mich dann mit Apfel und Brot noch gemütlich in den schönen Garten der Herberge legen. Doch der Wind war so frisch, dass die Wärme der Sonne nicht konkurrieren konnte und so packte ich meinen Krempel wieder zusammen und verzog mich in mein Stockbett. Dies war trotz der quietschenden Matratze relativ gemütlich und besaß zudem eine Ablagemöglichkeit, Lampe und Steckdose.
Ich teilte mir den großen Raum, der zweistöckig angeordnet war, mit zwei Französinnen und einem jungen Asiaten und hatte das Glück, dass alle ein Problem mit der Rachenmuskulatur hatten. Ich selbst hatte, um meine Mitschläfer nicht zu stören, diesmal kleine Tape-Streifen dabei, die ich mir am Abend Vertikal über die Mitte meines Mundes klebte. Diesen Tip hatte ich von meinem Qi Gong-Lehrer aus der Sucht-Klinik erhalten und bisher schien das zu funktionieren. Vielleicht würde ich in der nächsten Herberge eine Runde Tape-Streifen ausgeben. Vielleicht…

Ich verließ um 06:20 mit dem jungen Asiaten die Herberge, nachdem wir uns mit vereinten Kräften aus dieser befreit hatten. Denn das Schloss der Ausgangstür klemmte und ließ sich leider nur gewaltsam und wenig geräuscharm öffnen. Endlich in Freiheit liefen wir, wie jeden Morgen, durch den kühlen Nebel und suchten den ersten gelben Pfeil.

Die kommende Strecke war leider landschaftlich etwas weniger schön, als die Etappen zuvor. Man lief relativ oft an Straßen entlang und hatte wenig Aussichtsmöglichkeiten. Zudem blies der kalte Wind an und in die Ohren und da meine Augen leicht entzündet waren, entschied ich mich für das Tragen einer Sonnenbrille und zog mir den Schlaufschal über die Ohren. Meinen Stock hatte ich nun doch schweren Herzens zurückgelassen. Mir war klar geworden, dass nur ich den Abschieds-Schmerz spürte. Dem Stock war ich völlig gleichgültig. Keinerlei Emotionen auf der anderen Seite und dennoch viel mir die Entscheidung nicht leicht. Müsste es nicht einfacher gehen, wenn es nur DEIN persönlicher Abschied ist? Was, wenn es die andere Seite emotional nicht betrifft?
Erkenntnis: Abschied nehmen ist in erster Linie dein persönliches Problem. Komm damit klar.

Ich kam nach ca. 16 km in Lugo an, eine der größten Städte auf dem Primitivo und die 100 km Marke vor Santiago. Ab jetzt würde es voller werden auf dem Camino und meine lockere Planlosigkeit sollte ich nun wohl mal ablegen.
Einige Pilger hatten von Lugo geschwärmt und somit wollte ich mir die Stadt zumindest einmal ansehen. Schon als ich sie von Weitem erblickte war mein erster Gedanke: Wie hässlich. Bauklötze, wohin das Auge blickte. Aber da ich oberflächliche Betrachtungsweisen hasste, wollte ich ihr noch eine Chance geben. Ich lief somit ins Zentrum und suchte mir dort erst einmal ein Café, denn ich hatte ja noch nicht einmal gefrühstückt. Mein Croissant teilte ich dann mit frechen und leider ebenfalls hässlichen Tauben, die sich zuerst aufdringlich direkt vor mir auf dem Tisch platzierten, bis ich ihnen Erwünschtes zu Boden warf.

Gestärkt stapfte ich nun durch Lugo, aber die Stadt catchte mich nicht. So suchte ich nach gelben Pfeilen und war kurze Zeit später wieder auf dem Camino. Ich lief über eine schöne Steinbrücke und beobachtete dabei für einen kurzen Moment die vereinzelten Kanufahrer. Wenige Meter später kam ich an ihrem Anlegeplatz vorbei und einige junge Spanier liefen johlend hinunter zum Wasser. Plötzlich entdeckte ich ein Fahrzeug, deren Beifahrertür nicht richtig verschlossen war. Als ich ins Innere blickte, lag dort der Autoschlüssel auf dem Fahrersitz. Ich sprach einen spanischen Passanten darauf an, der nur mit den Schultern zuckte und weiterlief. Don‘t be German- be more spanish, dachte ich und lief ebenfalls weiter. Da überholte mich ein junger Pilger, grüßte, nickte mir kurz zu und lief mit seinen Flip Flops vor mir her. In Anbetracht der vorletzten Matschrouten war ich nun neugierig und fragte ihn auf englisch, ob er Blasen hätte. Um ehrlich zu sein eine Vollpfosten-Frage. Denn das Haupt-Indiz für Blasen sind Flip Flop tragende Pilger. Er antwortete dennoch freundlich und fragte nach meiner Herkunft. Anschließend ging es dann in schwäbisch-badischer Mundart weiter (solange man mir etwas badisch zugesteht). Er war heute in Lugo gestartet und hieß Lino. Und er sah auch aus, wie ein Lino. Mit seinem Großvater aus Puerto Rico und einer deutschen Mutter, hatte er aus meiner Sicht eher etwas von einem Puertoricaner. Einem sehr attraktiven noch dazu. Groß, gut gebaut und wahnsinnig schöne braune Augen.

Es lief sich sehr kurzweilig mit ihm und wir wechselten von einem Thema ins andere. Zwischendurch kugelte ich mich vor Lachen, als er beispielsweise die Geschichte seiner Freundin erzählte, welche im Urlaub in einem abgelegenen Gruselhäuschen Angst bekam und sich zum Schutz aus der Küche einen Holzlöffel holte. „Ein Holzlöffel?“ fragte daraufhin Lino und sie antwortete, dass der Angreifer ihr ja möglicherweise ihre Waffe abnehmen könne und da wäre es schlecht, wenn es ein Messer wäre…

Aber auch sonst ließen unsere Themen die Zeit verfliegen. Er erzählte mir (und auch hier habe ich ausdrücklich gefragt, ob ich darüber schreiben dürfe), dass seine Eltern beide drogenabhängig waren und er somit bei seinen Großeltern aufwuchst. Er betonte aber, eine sehr schöne Kindheit gehabt zu haben und sprach sehr liebevoll über seine Großeltern.
Gesundheitlich hatte der gerade mal 38jährige auch schon einiges durchleben müssen und ich war in diesem Moment sehr dankbar, dass meine Kinder größtenteils gesund ihr Leben genießen durften.
Die Unterhaltung mit Lino lenkte mich wieder von meinen Gedanken ab und ich spürte auch, dass ich das so wollte. Es tat gut zwischendurch auch mal unbeschwert über blöde Witze lachen zu können und die Straßenwege erschienen nun auch etwas fröhlicher. Wir trafen, nach 38 km Fußmarsch, bei der ersten Herberge ein, welche jedoch „full“ war. Es sollte aber noch eine Herberge der Xunta de Galicia geben und tatsächlich war diese nur einen Steinwurf entfernt, direkt gegenüber. Als Herberge hatte ich diese gar nicht wahrgenommen, da ihr Äußeres eher einem alten Waschhaus glich. Aber ich denke, speziell Lino, dessen Blasen noch schmerzten, war dankbar, ein Bett für diese Nacht zu bekommen und ich natürlich auch.

Jetzt, wo ich hier im engen Stockbett liege und es draußen wieder etwas regnet, bin ich dankbar für diese Unterkunft, dankbar für das Dach über meinem Kopf.

Dankbarkeit… dankbar Abschied nehmen. Dankbar für die Zeit, die man miteinander gehen durfte. Dankbar dafür, dass man sich überhaupt begegnen durfte. Dankbar für viele schöne Stunden.
Ich werde darüber nachdenken.