19.06.23

Mein Armbanduhr-Vibrator weckte mich um 05:25 Uhr, aber ich spürte sofort, dass ein Aufstehen noch nicht möglich war. Ich fühlte mich leicht bedrückt, ohne erklären zu können, woher dies kam. Aber das Gefühl war mir nicht fremd und ich wusste damit umzugehen. Eine gute halbe Stunde später stand ich leise und noch immer mit etwas Traurigkeit auf der Brust auf und packte meine restlichen Sachen zusammen. Das meiste hatte ich zuvor schon im Rucksack verstaut und so stand ich recht schnell gespornt vor der Tür. Dem Tag schien es allerdings ebenso zu gehen wie mir, denn es regnete und der vertraute Morgennebel machte diese Situation auch nicht besser. Also packte ich sowohl für mich als auch für meinen Rucksack die Regenbekleidung aus und war um 06:45 Uhr endlich auf dem Camino. Eva hatte am Tag zuvor schon angemerkt, dass sie erst aufstünde, wenn ihr Körper dies wolle. Und da dies nicht der Fall war, ließ ich sie ungeweckt zurück.

Auf den ersten Kilometer Richtung Grandas de Salime löste sich meine Bedrückung und ich genoss das Laufen im nassen Wald mit seinen Geräuschen und Gerüchen. Ich hoffte, in Grandas de Salime meinen ersten Kaffee zu bekommen, doch die Stadt schlief noch. So musste ich also unkoffeiniert weiter.

In einem meiner geliebten ,Baumtunnel-Wege‘ hörte ich plötzlich einen Vogel aufgeregt piepen und suchte mit den Augen die Gegend ab, aus der das Geräusch kam. Und tatsächlich saß dort ein junger Vogel, welcher aufgeregt hin-und herflatterte. Er war offensichtlich aus dem Nest gefallen, hatte den Flugschein aber noch nicht bestanden. Ich las bei Dr. Google kurz nach, was zu tun sei und streckte dann vorsichtig meine Hand nach ihm aus. Er wiegte sein Köpfchen hin und her, musterte mich und sprang selbstständig auf meinen Arm. Mein Herz hüpfte vor Rührung und ich griff zur Kamera, um diesen Moment festzuhalten. Leider tappte in diesem Moment eine ältere Französin daher und der kleine Vogel hüpfte erschrocken in mein Genick. Die Französin packte den Vogel unaufgefordert und setzte ihn zurück ins Gras. Sie erklärte mir beim Weiterlaufen noch, dass der junge Vogel wieder zu seinen Eltern müsse und ließ mich stehen. Somit bot ich dem Kleinen ein weiteres Mal meinen Arm an und er hüpfte, trotz des französisch verursachten Vertrauensbruch, hinauf. Das Nest und die aufgeregt zwitschernde Mutter schienen sich auf dem oberen Teil einer Mauer zu befinden und dort setzte ich ihn dann auch ab. Da er ja zumindest schon das ,Flug-Pferdchen‘ besaß, hoffte ich, er würde den Rest alleine schaffen. Während ich weiterlief, stellte ich mir vor, wie er munter zurück ins Nest hüpfte und seinen Geschwistern mit hoch erhobenem Schnabel zuzwitscherte, er habe jetzt eine Menschenfreundin. Dieser Gedanke ließ auch wirklich den letzten Druck auf meiner Brust verschwinden und ich lief tatsächlich leise summend weiter.


Ich traf auf dem Weg die unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen: Slovenien, Nord-Amerika, Brasilien, Südafrika, Australien, United Kingdom, Ungarn, Polen, Frankreich, Schweiz und natürlich auch aus Deutschland und Spanien.

Dem jungen Mädchen mit den kurzen weißblonden Haaren aus Südafrika begegnete ich das erste Mal auf einem sehr steilen Anstieg. Sie saß dort mitten auf den spitzen Geröllsteinen und einige Pilger zogen achtlos an ihr vorbei. Grundsätzlich war dies nicht üblich, denn man kümmerte sich umeinander, aber vielleicht erschien auch nur mir die Situation merkwürdig. Ich lief auf sie zu und fragte, ob sie hier nur pausiere? Sie nickte etwas verunsichert und so fragte ich weiter, woher sie denn käme. Als sie antwortete, sie käme aus Kapstadt leuchteten meine Augen auf und ich sagte ihr, dass sowohl Südafrika als auch Namibia noch zu meinen Traumzielen dieser Erde gehörten. Das brachte sie dann wohl auf die Beine und wir liefen kurz nebeneinander her, während sie mir von ihrer Stadt vorschwärmte und mir riet, diese zwischen November und März zu besuchen. Sie wirkte plötzlich sehr aufgeweckt und quirlig und ich fragte, ob sie denn dort geboren sei. Nein, sie wäre in England geboren, aber schon mit zwei Jahren in das für sie schönste Land der Welt gezogen. Sie wurde stiller und sah mich von der Seite an. Dann erzählte sie etwas ruhiger, sie wäre den Hospitales gelaufen und hätte zwischendurch gedacht, sie würde ihn nicht schaffen. Dazu hätte es so gewindet und sie hätte sich geängstigt. Dann wären die Tränen gelaufen und sie hat schreckliches Heimweh bekommen und ihre Mum angerufen. Und gerade eben, als sie da auf den Steinen saß, wäre es ihr ähnlich ergangen. Ich fragte, wie alt sie sei und sie antwortete sie wäre 20 Jahre alt, aber sehr klein und so würde man sie wohl immer jünger schätzen. Ich sagte ihr, dass in diesem Fall das Alter auch gar keine Rolle spiele. Heimweh hat keine Altersgrenze. Und auch mit über 50 steht man mal weinend auf einem Berg, weil man das Gefühl hat, nicht weiterzukommen. Sie lachte mich mit ihren großen Augen an und sagte: „Ja, das glaube ich.“ Wir liefen noch ein wenig schweigend den Berg hinauf und keuchten dabei nicht schlecht, da dieser kein Ende nehmen wollte. Oben angekommen, entdeckte ich eine schöne Rastmöglichkeit mit tollem Ausblick und verabschiedete mich von der jungen Südafrikanerin.

Ich breitete das Rucksack-Cape auf dem feuchten Grasboden aus und setzte mich gemütlich, mit einem Apfel bewaffnet darauf.
Während ich über die vernebelten Berge mit den mit Puderzucker bestreuten Bäumen blickte, setzte sich plötzlich eine deutsche Frau mit ihrer Tochter neben mich, die ich zu Beginn des Anstiegs überholt hatte. Wir plauderten und die Mutter holte den Reiseführer aus dem Rucksack. Ist euch schon einmal aufgefallen, dass es nur 2 Gattungen Reiseführer-Besitzer gibt? Franzosen und Deutsche. Ich habe weder bei den Amis noch bei Ost-Europäern jemals dieses typisch gelb-blaue Büchlein entdeckt. Ich bin eher so der Reiseführer-Parasit, denn ich sitze munter zuhörend daneben, während andere aus ihrem schlauen Buch, die schönsten Strecken oder besten Bars zitieren 😊.
Dass ich nun nicht der kulturelle Pilger bin, war klar. Und als ich dann noch zugeben musste, noch keine Schlafstätte, geschweige denn ein Ziel zu haben, blickten mich beide mit großen Augen an. Ich zuckte nur mit den Schultern und meinte, sie hätten eben andere Gründe diesen Camino zu gehen und das wäre auch gut und schön so. Sie stimmten zu und begannen nun, die Vorzüge ihres durchgeplanten Caminos zu schildern, während ich innerlich leise schmunzelte.
Auf jedem dieser Caminos gibt es die gleichen Themen: Wer läuft wie schnell und warum und ganz wichtig sind die zurückgelegten Kilometer. Auch ich machte bei diesem doofen Spiel ständig mit und beschloss in diesem Moment, keine diesbezüglichen Fragen mehr an andere Pilger zu stellen. Wir sind hier schließlich nicht bei einem Wettkampf. Aber das bedeutete natürlich nicht, dass ich auf meine 32 km am Ende dieses Tages nicht stolz war.

Ich gebe allerdings zu, am Ende dieser Etappe ganz schön gekeucht zu haben, denn es ging nach A Fonsagrada nochmal ein langes und steiles Stück bergauf. Die Herberge war schön, allerdings sehr voll. Es trafen sich wirklich alle wieder, die mir unterwegs begegnet waren und noch ein paar Franzosen obendrauf. Überhaupt war dieser Camino von den Franzosen besetzt worden. Die junge Südafrikanerin lachte mit einer großen Gruppe Altersgenossen, die ihr sicherlich das Heimweh erleichterten und die Deutschen, inklusive mir, wuschen ihre Wäsche im offenen Waschhaus. Dazu regnete es, wie schon zu Beginn des Tages.
Um 23 Uhr schloss ich die Augen und hoffte, in diesem überfüllten engen Schlafraum mit 7 Zimmergenossen wenigstens ein wenig schlafen zu können.

Heute, am 5 Tag meiner Reise, hatte ich die Halbzeit nach Santiago schon erreicht.

20.06.23

Da wir einen Tag im Verzug sind, hole ich hiermit wieder auf 😉.

Nach dem frühmorgendlichen Kampf ums Waschbecken mit einer älteren Französin, stiefelte ich um 06:15 Uhr in der Morgendämmerung los.

Leider schien es sich einzuregnen, denn die Straßenpfützen waren gut gefüllt und die Wolken ließen kein Ende erkennen. Ich lief überwiegend alleine und war froh darüber. Es war Zeit, den Weg mit Gedanken zu füllen. Allerdings bezogen sich die heutigen Gedanken eher auf die Frage, wo trete ich hin, ohne völlig im Morast zu versacken. Meine Schuhe und auch der untere Teil der Hose waren in kurzer Zeit durchmatscht und speziell die Hose nahm mir dies übel, hatte sie doch am Tag zuvor ein frisches Bad genommen.


Trotz Regen, Match und auch heute wieder einigen Höhenmetern lief ich gut. Fast zu gut. Seit Tagen legte ich meist über 30 km zurück und reichte sogar oft an die 40 km heran. Ohne größere Probleme. Ja, ich machte mir Gedanken woran das liegen könnte und ja, ich hatte Vermutungen. Aber diese teile ich euch nicht mit. Noch nicht.

Ich war etwa 12 km gelaufen, da meldete sich mein Kaffee-Durst (erstaunlich spät) und ich sah, dass um die nächste Ecke schon Rucksäcke an Holzbänken angelehnt standen, die offensichtlich zu einer Bar gehörten. Ich lief in freudiger Erwartung darauf zu und hörte eine junge Brasilianerin sagen: „ It‘s closed“, worauf ich antwortete: „That‘s a Desaster!“ Und wir lachten. Alle drei, denn am anderen Tisch saß ein junger Slowene, der bemüht war, über Italien einen Flug nach Hause zu bekommen, da dieser billiger war, als von Spanien. Er hatte eigentlich schon ein Flugticket mit Zwischenlandung in England, brauchte hier aber aufgrund des Brexits einen Reisepass, welchen er nicht hatte. Konfuse Welt.
Ich hatte mir über den Rückflug noch gar keine Gedanken gemacht, beschloss aber dies nun zeitnah zu tun.
Ohne Kaffee ging es weiter. Bergab und bergauf, immer im Wechsel. Das ist der Primitivo. Landschaftlich hält er aus meiner Sicht aber mit dem Camino del Norte gut mit. Im Gegenteil fing ich an, ihn zu lieben. Auch auf dieser Etappe gab es Momente, die sich kaum beschreiben lassen. Du läufst und läufst und plötzlich stehst du auf einer Anhöhe und überblickst gefühlt die ganze spanische Bergwelt. Dazu die Ruhe, nur das leichte Summen der Bienen und ein paar Vögel, die sich über große Distanzen etwas zurufen. Du atmest die feuchte Bergluft ein und… könntest heulen. So schön ist es. Glückstränen. Für einen Moment wiegen Sorgen und Belastungen nicht mehr, als der Atemzug, den du soeben genommen hast. Kitschig? Möglich. Aber lasst mich kitschig sein, wenn es mir Luft zum Atmen gibt.
Für mich war die heutige Etappe, nach dem Hospitales, die landschaftlich schönste. Ich bin durch romantische Baumtunnel gelaufen, bei denen man sich einen geliebten Menschen an die Hand wünscht. In regenfreien Zeiten begleiteten die Schmetterlinge zeitweise meinen Weg und selbst ein Wiesel hat sich die Zeit genommen, kurz für meine Gesellschaft zu sorgen. Aber am atemberaubendsten war der Greifvogel, der sich plötzlich aus den Bäumen löste und direkt durch den Baumtunnel vor mir herflog. Bis ich mein Handy gezückt hatte, war er allerdings leider schon wieder in die Bäume verschwunden und als ich ihm hinterherrief, ob er das für ein Foto eventuell wiederholen könne, antwortete er nicht mehr. Fazid: spanische Greifvögel sind kamerascheu oder unhöflich.

Ich suchte, inzwischen hatte es zu regnen aufgehört, einen schönen Rastplatz. Mein Wunsch war: Nicht zu nah an der Straße, sonnig und wenn möglich eine kalte Quelle, um die Füße darin zu baden. Ich fand den Wunsch realistisch, der Camino nicht. Tatsächlich keine Möglichkeit, sich hinzusetzen, wollte man dies nicht direkt auf dem Weg tun. Nach insgesamt 32 km lief ich auf eine kleine Steinbrücke zu, die über eine Quelle führte. Wenn das mal nicht wieder Monsieur Schicksal war 😉. Ich war zumindest glücklich, zog meine Schuhe und Socken aus, packte meinen Kokosjoghurt und die Kekse aus und ließ es mir gut gehen.

Nur 1 km nach meinem schönen Rastplatz kam ich nach Castroverde und stand auch gleich for der einzigen und städtisch geführten Herberge des Ortes. Erstens war ich gefühlt nach meiner Pause noch nicht gewillt mit dem Laufen aufzuhören, zweitens war die Herberge steril und hässlich und drittens die spanische ,Rezeptionistin“ völlig unfreundlich bezüglich meiner nicht vorhandenen Spanischkenntnisse. Entscheidung gefällt, die Reise ging noch 6-7 km weiter.

Nach nun 40 km Tagesmarsch, kam ich endlich in einer kuscheligen Herberge mit freundlichem Herbergs-Sohn und zwei Hunden unter. Die Oma des Hauses blickte in meinen Stempelpass, gerade als ich einen neuen Szempel zufügen wollte, zeigte aufgeregt auf meinen letzten Stempel und sprach dann energisch auf ihren Enkel ein. Dieser erklärte mir, dass seine Großmutter darauf bestünde, ich solle mich sofort mit einer Tasse Kaffee hinsetzen, da ich ja völlig fertig sein müsse. Ist das nicht mega süß 🥰 ?