Ich hab‘s getan! Ich bin in nur 9 Tagen ca. 330 km gelaufen. Somit ein stolzer Durchschnitt von 36,66 km pro Tag. Da kamma doch ma stolz sein.
Doch ich greife erneut zu weit vor und somit drehen wir wieder mal am Zeitrad, zurück zum 22.06.23

Um 5:00 Uhr fingen einige Zimmergenossen an, ungemütlich zu werden. Und da der Sanitärraum sehr begrenzt war und mir nicht der Sinn nach morgendlicher körperlicher Nähe stand, beschloss ich liegen zu bleiben, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Als ich mich dann träge erhob, waren Lino und ich die letzten Hinterbliebenen. Da Lino noch tief schlummerte, packte ich meine Sachen nach draußen, um dort geräuschvoll alles packen zu können. Als ich nochmal zurück in den Schlafraum ging, um mein Handy zu holen, murmelte er ein „Guten Morgen“. Ich sagte ihm, dass er nun der Letzte sei und somit später den Raum abschließen und den Schlüssel deponieren müsse, so, wie es uns der emotionslose ,Einweiser‘ am Vortag beschrieben hat. Lino murmelte: „War ja klar,“ und beschloss nun erst einmal noch eine Stunde zu schlafen. Es sei ihm gegönnt, aber ich zog nun, um 06:45 Uhr nach einem herzlichen „Alles Gute“ los.
Es war, wie eigentlich jeden Morgen, neblig und bewölkt und ich vermutete, dass die junge Mexikanerin, die heute morgen als erste losgezogen war, in die Dunkelheit startete.

Heute Morgen hatte ich eine Entscheidung getroffen und aus dieser resultierte, dass es heute eine etwas längere Etappe werden müsse. War ja nicht so, dass die bisherigen zu kurz waren, aber heute mussten noch ein paar ,Kilometerchen‘ dran.

Die Wege kurz vor Santiago wechseln sich im stetigen Rhythmus ab: Straßenwege, Baumtunnel, Waldwege und dazwischen Herbergen, Bars und Bauernhöfe und inzwischen auch einmal größere Städte. Es waren sicher auch immer nette Stellen dazwischen, aber wenn man die Wege zuvor genossen hatte, so haute einen hier eigentlich nichts mehr um. Im Gegenteil füllt sich ja der Camino und das machte es eher ungemütlich.

Nun hatte ich das Glück, dass auf den ersten Kilometern niemand in Sicht war, denn ein Teil meines Inneren wollte sich nicht mehr zurückhalten.
Ich weinte nicht leise vor mich hin, das übliche lautlose Tränenkullern. Nein, es war eher das Brechen eines Walls. Und er brach laut. Wenn mich jemand dabei erwischt hätte, ja, es wäre mir peinlich gewesen. Aber es löste auch ein wenig den Druck auf der Brust.
Wisst ihr noch, wie es war 4, 5 oder 6 Jahre alt zu sein? Welche Wünsche und Träume man hatte? Hat sich nicht jeder irgendwann einmal vorgestellt, wie wir einmal sind, wenn wir erwachsen sind? So ein großes Wort: ERWACHSEN. Für mich hieß das damals außer schön und erfolgreich werden zu wollen auch, Familie zu haben. Geliebt zu werden. Glücklich zu sein. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass man als erwachsener Mensch unglücklich sein könnte, denn man darf doch nun selber bestimmen, was und wie man etwas tut.

Die Sonnenbrille verdeckte die verheulten Augen und so lief ich dann doch an den ersten Frühaufstehern vorbei. Die Wander-Stäbe in unterschiedlichen Designs klapperten über Kies und Teer. Und ein internationaler Wortwind fegte durch meine Ohren. Allein unter Vielen. So habe ich mich immer gefühlt. Und während die Tanz-Paare am Ende gemeinsam nach Hause gingen, habe ich alleine die Tische abgewischt. Möglicherweise wiederhole ich mich aus einem anderen Blog, aber bei meiner Arbeitseinstellung war eine Partnerschaft ja gar nicht möglich.
Es fehlte jedoch nicht nur der Partner. Es fehlte der wirkliche berufliche Erfolg, der für die Anerkennung und Wertschätzung meiner Leistungen so wichtig gewesen wäre. Etwas erreicht zu haben, finanziell abgesichert zu sein. Wir messen oft den Wert des Menschen an der Größe seiner finanziellen Substanz.
Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Eltern jemals zu mir gesagt hätten: „Ich bin stolz auf dich.“ Oder gezeigt. Das hört sich nun anklagend an und das ist es vielleicht ja auch. Aber letztlich hätte ich diese Worte gerne von jemandem anderen gehört oder gefühlt… von mir selbst.

Ich kam an die erste geöffnete Bar und das war auch dringend nötig, denn ich war unterkoffeiniert. Die Bar war unglaublich gemütlich und sehr schön gestaltet. Da der Besitzer Deutscher war, erfuhr ich, dass diese Bar von einem englischen Architekten gestaltet wurde, der sich die Reste einer Ruine zu Nutze gemacht hatte. Somit wurden noch erhaltene Mauern in den Bau integriert. Hatte etwas von Nachhaltigkeit, perfekt. Die deutsche Familie inklusive zwei Kindern, hatte die Bar erst vor 8 Monaten übernommen und er erzählte mir, wie glücklich sie hier wären. Ich konnte sehen und fühlen, wie ernst er das meinte und freute mich sehr für ihn.

Der Rest der Barbesucher plauschte über die Unterkünfte, die nun wieder rar wurden, und so sollte ich mich zeitnah ebenfalls um ein Bett kümmern. Ich zog die Reservierung immer noch etwas hinaus, da ich nicht wusste, wie weit mich meine Füße tragen würden.

Auf dem weiteren Weg überholte ich nun auch die Mexikanerin und sprach sie an. Ihre Familie lebt in Spanien entlang des Caminos (wie praktisch) und in Santiago wollte sie ihren Onkel besuchen, der Priester sei (auch praktisch). Wir plauderten kurz und plötzlich fragte sie mich, warum ich den Camino gehen würde. Und so, wie zuvor der Tränenwall brach, brach es aus mir heraus und ich erzählte ihr fast meine ganze Geschichte. Dass ich aufgehört hatte zu trinken und hier später eine Tagesklinik besuchte, eine Krebserkrankung hinter mich gebracht hatte, die Tanzschule übergeben und dann abrupt verlassen hatte, meinen besten Freund gehen lassen musste. Ich hatte bei keinem dieser Dinge das Gefühl, einen wirklichen Schluss-Strich setzen zu können. Mit Ausnahme des Alkohols, DER Schluss-Strich war dick gedruckt.
Ich sprach noch immer nicht öffentlich über die ,Diagnosen‘ „Burn out“ (zählt nicht als Krankheit) oder „Depressionen“. Es fällt mir sogar schwer, es hier so stehen zu lassen, da es immer noch Worte sind, die ich in meinem Leben nicht akzeptiert habe. Aber immerhin lasse ich sie jetzt hier stehen 👆🏼.
Zum Ende meines ,Vortrags‘ sagte ich ihr dann, dass ich aber nicht traurig wäre. Voll gelogen und somit komme ich -wieder einmal- in die Hölle. Aber ich wollte keine Opferrolle vor ihr einnehmen und fühlte mich, ob meines Ausbruchs auch irgendwie schlecht.
So kaufte ich mir an der nächsten Bar ein Eis, entschuldigte mich beim zweiten Überholen bei ihr, ihre Zeit so in Anspruch genommen zu haben und erklärte dann, ich wolle heute schneller weiter. Sie meinte nur lächelnd: „I enjoyed your company“ und wir wünschten uns beide noch einen „ Buen Camino“.

Unterwegs kam ich an ein kleines Flüsschen kurz vor Arzua und kühlte erst einmal meine arbeitsamen und sehr motivierten Beine.

Als ich letztlich dann doch mal eine Unterkunft reservierte, fiel die Wahl auf ein Hostel abseits des Camions. Alles andere war nämlich ,full‘ oder zu teuer.
Um zum Hostel zu kommen musste ich nun in glühender Hitze, denn die Sonne kam nun auch mal zum Vorschein, mehrere Kilometer eine sich windende und stark befahrene Schnellstraße entlang trotten. Die letzten Kilometer waren somit eine echte Qual.

Nach gut 52 km saß ich nun endlich in der Nähe von A Peroxa auf meinem Bett und hatte damit meinen persönlichen Tagesrekord gebrochen. Keine weitere Menschenseele in meinem Raum und ein Bad für mich. Ich fand, das hatte ich auch verdient.
Und war auch ein wenig stolz ☺️.