23.06.23

Mir war aufgrund des Umweges noch nicht klar, wieviel Kilometer ich nun heute zurückzulegen hatte. Die Beine hatten in der Nacht leicht aber erträglich geschmerzt und fühlten sich wieder ausgeruht und fit an.
Ich ließ mir Zeit, packte in Ruhe den Rucksack und zog dennoch schon um 06.50 Uhr los.
Ich träumte. Meine Entscheidung fühlte sich richtig an und ich freute mich auf die kommende Zeit.
Konnte und sollte man überhaupt Abschied nehmen? Und von was? Von einem Teil seines Lebens?

Es wurde verteufelt heiß. Ich hatte so fucking viel Glück gehabt, mit dem überwiegend bewölkten und manchmal regnerischem Wetter. Hitze war tödlich auf dem Camino. Zumindest für mich. Aber dafür musste man sich um kühle, frische Getränke und Nahrungsaufnahme keine Gedanken mehr machen, denn es wurde nun zunehmend touristischer. Ich entdeckte nun auch immer mehr Stellen, die mich an Adelina und Judith vom ersten Camino del Norte erinnerten. Schöne Erinnerungen. Und ich erinnerte mich, weshalb ich diesen ersten Weg gegangen war. Ich hatte zu mir gefunden. Ja, das sehe ich auch heute noch so. Und ich hatte Zeit gehabt mich kennen und auch mehr lieben zu lernen. Der Weg den ich anschließend einschlug, war hart, sicher nicht nur für mich.

Ich kam an einer Kuhherde vorbei und eine der Kühe stand erwartungsvoll am Gatter und starrte mir auffordernd entgegen. ,Unterbrich deine Gedanken und streichel mich‘ , sagten ihre schönen großen Augen. Ihre Blesse war kühler als erwartet und wir genossen beide die Streicheleinheiten. Irgendwann versuchte sie meine Hand zu erwischen. Es schien, als hoffte sie auf eine Futterabwechslung zum frischen Grün. Doch ich hatte nichts mehr, was ich ihr bedenkenlos hätte geben können und so zog ich schließlich weiter.


Wenig später traute ich meinen Augen kaum. Vor mir lief eine Gruppe Frauen mit einem Liege-Rollstuhl (keine Ahnung, wie die Dinger richtig heißen). Das behinderte Mädchen darin war definitiv das Mädchen, welches mir auch auf dem Camino Portugues begegnet war. Vielleicht würde sich auch Nicole daran erinnern, welche mich letztes Jahr oft begleitet hatte. Denn es war natürlich auffällig, mit welcher Geduld diese Frauen ihr behindertes Mädchen über diese oft schwer begehbaren Wege bugsierten. Ich konnte nicht anders und sprach sie an. Und tatsächlich erkannte mich eine der Frauen sofort und erklärte den anderen auf spanisch ganz aufgeregt, dass sie mich vom letzten Camino kenne. Ich verstand kein Wort, aber Gestig und die Worte ,Camino Portugues’ waren eindeutig. Sie gehörten schon damals zu meinen ,Camino-Heros“. Unglaublich was Menschen bereit waren zu tun, um diese Wege zu gehen. Was gab ihnen der Camino, was sie sonst nicht bekommen konnten? Mut? Kraft? Stolz? Was es auch war, es bereicherte oder erleichterte ihr Leben.

Die Augen des behinderten Mädchens sahen mich an und strahlten. Ich vermute, dass sie die Situation verstand.
In solchen Momenten fühlen wir uns oft schlecht ob unserer nun so klein wirkenden Sorgen. Aber wird mein Schmerz denn weniger, nur weil ein anderer größere Schmerzen ertragen muss? Und muss ich mich dafür dann schämen? Was würde mir dieses Mädchen sagen, wenn sie meine Geschichte kennen würde? Würde sie mich in dem ein oder anderen Bereich nicht auch trösten? Unabhängig ihrer eigenen Situation?
Und sollte ich nicht ihrem Beispiel folgen und Dinge einfach annehmen, weil sie nunmal so sind?

Der Tag wurde immer schwüler und ich betrat eine unserer ehemaligen Bars vom Camino del Norte, bestellte Kaffee und Croissant und zog meine Schuhe aus. Dann traf ich noch ein paar Vorbereitungen und lief eine gute Stunde später gut ausgeruht weiter. Ich merkte recht bald, dass meine linke Socke am Fußballen unten ,verknubbelt‘ war, hatte aber keine Lust daran etwas zu ändern und nahm es somit hin.


Ich hatte auf dieser letzten Etappe immer mal wieder ein Lied von ,Nightbirde’ leise vor mich hin gesungen. Songwriterin und Sängerin Jane Kristen Marczewski, ihr bürgerlicher Name, starb mit nur 31 Jahren an Krebs. Ihre Botschaft in ihren Liedern sagte oft aus: Lebt! Jeder macht Fehler, jeder fühlt sich mal alleine! Das ist okay. Du kannst vor manchen Dingen nicht weglaufen, so,… nimm sie an. Dies ist natürlich meine Interpretation ihrer Songs.
In ihrem Lied ,It‘s okay‘ singt sie:

It’s okay, it’s okay, it’s okay, it’s okay
If you’re lost, we’re all a little lost and it’s alright

Auch sonst trifft mich der Text dieses Songs mitten ins Herz.

Ich werde es tun! Die Vergangenheit annehmen. Sie ist ein Teil unseres Lebens und hat das aus uns gemacht, was wir heute sind. Sie hat uns unsere Stärken und Schwächen gezeigt und gibt uns jeden Tag eine neue Chance. Und ich möchte mich erinnern. An die schönen Momente. Die tollen Bälle, die wir auf die Beine gestellt haben; unser oft emotionaler „Tanz für einen guten Zweck“, mit dem wir Menschen und Tieren ein kleines Stück Unterstützung zukommen lassen konnten. Der Rollstuhlkurs, meine süßen Kinder-und Babykurse, die schönen und oft auch lustigen Tanz-Abende mit unseren Paaren. Unser Kinder-Musical und die leuchtenden Augen der ,Caritas-Kinder‘ und vieles mehr. Und ich werde mich/uns nicht messen an Dingen, die für ein glückliches Leben völlig belanglos sind.

Der Weg nach Santiago fühlt sich die letzten 5km an, wie der Gang auf einem Laufband in die entgegengesetzte Richtung. Er nimmt kein Ende. Nach 44 km stoppte ich auf dem Platz vor der Kathedrale die Uhr. Und ja, die abgelaufenen Kilometer decken sich in etwa mit den Kilometerangaben, die man über den Primitivo finden kann.

Diesmal war ich alleine in Santiago eingelaufen. Ich kannte auf diesem Platz niemanden, da ich viele ,überrannt‘ hatte. Gerhard, Eva, Lino und viele andere würden erst in den nächsten Tagen ankommen.
Wie jedes Jahr wuselten viele Pilger johlend und fotografierend über den Platz. Ich bat zwei deutsche Frauen auch von mir ein ,Ankunftsfoto‘ zu machen. Mit mir alleine. Und ich fühlte mich gut dabei. Denn alleine heißt nicht einsam.

Ich hatte mir auf dieser Ankunftszeit-Etappe nun doch noch eine Blase am Fußballen des linken Fußes zugezogen. Das nächste Mal wird die Socke geradegerückt! Und da ich außer Wanderschuhen nur Flip-Flops mithatte, mussten dringend Sneakers her, denn mit der Blase waren Flip-Flops ungeschickt, da diese sich bis zwischen die Zehen erstreckte. So lief ich, nach dem Einchecken ins Hostel, schnellen Fußes durch die Stadt, verhedderte dabei die Schnürsenkel meines einen Wanderschuhs mit den Einhakungen des anderen und fiel gestreckt auf die Nase. Oder mehr auf meinen linken Arm. Ich lag noch nicht am Boden standen gefühlt 4 spanische Mamas um mich herum, um mich wieder zusammenzusetzen. Während die eine meine Schnürsenkel sortierte, prüfte die andere mein kaum verletztes Knie und die nächste zog an meinem leicht geprellten Arm. Ich hatte mehr Mühe mich von den liebevoll helfenden Händen zu befreien, denn aufzustehen.
Ich bin mit einem Schrecken davongekommen und irgendwie war das Ganze ja auch urkomisch. Mein letzter Sturz lag immerhin ca. 50 Jahre zurück.

Ich verbrachte noch den kommenden Tag in Santiago und traf dort dann tatsächlich einige bekannte Gesichter. Dennoch schloss ich mich keiner der Gruppen an, obwohl ich gefragt wurde. Ich genoss die Tatsache, mich später von niemandem mit Herzschmerz verabschieden zu müssen.

Am Nachmittag saß ich dann bei einem guten spanischen Kaffee auf einem schönen Platz und genoss den Tag. Ein Däne sprach mich an und fragte, ob ich ,den Norte‘ gelaufen wäre. Er war auf mein Tattoo vom vorletzten Jahr aufmerksam geworden, denn ,Camino del Norte‘ stand groß auf meinem Oberschenkel. Ich deckte auf und erklärte, dass ich dieses Jahr den Primitivo gelaufen wäre. Wie lange ich gebraucht hätte, fragte er weiter und ich antwortete: „ 9 Tage“. Nun drehte er sich völlig entsetzt ganz zu mir herum, zeigte auf meine Beine und fragte, ob alles okay wäre? Ich lachte und nickte. Er meinte, es müsse doch einen Grund geben, diese Höhenmeter in so kurzer Zeit zu bezwingen und ich wäre nun seine Heldin. (Anmerkung: Es gibt durchaus andere Primitivo-Rekorde, als den meinen 😉) Es tat gut gelobt zu werden und so ausgiebig lachen zu können. Ich teilte ihm meine Vermutung für meinen guten Lauf mit und nun hatte ich ihn wohl völlig geflasht, denn er sagte ruhig und ernst, das wäre die schönste Geschichte, die er dieses Jahr auf dem Camino gehört hätte und bedankte sich.

Ich habe den Camino genossen und er hat mir in diesem Jahr gezeigt, dass Rückblicke nicht vorwärtsbringen und Gram und Verletzungen nunmal Teil des Lebens sind. Vergangenes läßt sich nicht ändern, auch wenn du noch so sehr leidest. Wenn Nightbirde die Chance gehabt hätte, sie hätte weiter jeden Tag als Geschenk genutzt. Ich wollte nun endlich nach vorne blicken und wenn schmerzhafte Erinnerungen hochkämen, diese anerkennen als das, was sie sind: Erinnerungen. Es ist okay!

Viele haben mich gefragt, wie es sein kann täglich 30-40 km zu laufen ohne Ermüdungserscheinungen. Es gab folgende Vermutungen:

  1. Ich litt schon Wochen vor dem Camino an schmerzenden Beinen, Fußsohlen und Fingern. Womöglich eine Nervenschädigung durch den Alkohol. Ich bekomme Medikamente, die die Schmerzen lindern. Das könnte einer der Gründe sein, ich selbst bin nicht davon überzeugt.
  2. Ich lebe seit über einem Jahr alkoholfrei und entfalte nun meine wahre Energie. Schöne Vorstellungen.

Ich selbst glaube an eine weitaus stärkere Kraft. Eine Kraft, die uns über uns hinauswachsen lässt. Die wir in uns tragen und die, wenn sie aktiviert wird, mehr bewirken kann, als jede Droge dieser Welt: Die Liebe!

Ich sitze nun im Flugzeug mit neuer Hoffnung auf Gesundheit und Glück. Ich fliege dem Menschen entgegen, der meine Liebe erwidert und meine Vergangenheit als das erkennt, was es ist: vergangen!