Abschiede und eine Begegnung mit mir selbst…

17.06.23
Lehnt euch zurück, lasst alle Gedanken los und folgt mir. Diese Etappe birgt Emotionen, die ich sobald nicht erwartet hatte. Aber langsam, ich sollte mit dem Tagesstart beginnen.
Die Nacht war erwartet ruhig, da ja außer mir diese Herberge niemand mehr bewohnte. Ich hüpfte um 04:25 Uhr aus dem Bett und war um kurz nach 05:00 Uhr auf dem Camino. Nur sehen konnte ich ihn nicht. Denn schon nach wenigen Minuten führte der enge Fußweg durch nicht enden wollend schwarzes Gestrüpp. Der tiefe Morgennebel machte sich zusätzlich über meine Handytaschenlampe lustig und gab die Sicht nur einen Schritt breit frei. Ich möchte offen sein: Ja, mir war mulmig zumute und ich bedauerte kurz meine Entscheidung, so früh gestartet zu sein. Ich rechnete mit mindestens 1 Stunde vernebelter Finsternis und sollte damit auch Recht behalten. Und an Angst gewöhnt man sich so schnell nicht, auch nicht, wenn sie wissentlich unbegründet ist. Zu allem Übel lief mir plötzlich ein weißes fuchsartiges Tier entgegen und fing bei meinem Anblick wild und gellend an zu schreien, drehte sich dann windend ab und lief davon. Zurück ließ es ein wild schlagendes Herz, das fremdartig meinen Hals besetzt hatte. Links neben mir bellte ein asthmakranker Hund im halben Takt meines Pulses. Im forschen Weitergehen passte sich mein Puls diesem Gebelle dann aber wieder an und ich stand wenig später an einer Lichtung, deren Bezeichnung um diese Uhrzeit irgendwie ironisch klang. Inzwischen war es 06:00 Uhr und man konnte beobachten, wie sich der Nebel bläulich verfärbte. Magisch und unheimlich zugleich. Ich war fasziniert und konnte mich minutenlang nicht vom Platz bewegen.

Die Frische trieb mich weiter, denn ich trug kurze Hosen in der Vorausschau, was mich heute noch erwartete. Und diese Entscheidung gestaltete sich, trotz der späteren Höchsttemperatur von nur 23 Grad als richtig, denn der Primitivo bringt dich täglich zum Schwitzen.
Leider wurde das Aufgehen der Sonne größtenteils durch die Bergwände und Wälder, welche ich durchquerte, verdeckt, aber dennoch war es wieder ein Genuss, den Tag starten zu sehen. Nun konnte ich auch wieder ohne Zusatzlicht laufen.
Ich kam wieder einmal an einem Gehöft vorbei, als ich ein merkwürdiges Geräusch hörte und Sekunden später ein kleiner braun-weißer Hund an mir durchsauste. Ich musste laut lachen, denn er wirbelte nun lustig hin und her und schien sich daran zu erfreuen mich erschreckt zu haben. Er lief neben und vor mir her und markierte eifrig sein Revier. Dann versteckte er sich hinter einem Gebüsch und sprang wieder, kurz nachdem ich es erreicht hatte, wie ein wild gewordenes Kaninchen daraus hervor. Denkt, was immer ihr wollt, aber der hatte Spaß am Erschrecken.
Ich lief dem kleinen Kerl hinterher, da dieser sich ebenfalls an den gelben Pfeilen zu orientieren schien. An einer großen Landstraße lief er dann allerdings geradeaus und ich folgte weiter den Zeichen des Caminos. Der Hund blickte sich um, änderte seine Richtung und kam mir nach. Das war der Zeitpunkt, an dem ich begann, an einem zufälligen gemeinsamen Weg zu zweifeln. Zum Test blieb ich stehen und siehe da, er blickte zurück, stoppte, sah mich fragend an und lief dann direkt auf mich zu.
Wer meinen gestrigen Blogeintrag gelesen hat wird jetzt schmunzeln. Soviel zu: Ich nehm sie! Alle! Nun hatte ich den Salat! Zumindest dieser Hund hatte das irgendwie mitbekommen und sich entschieden, mich zu begleiten. Er trug jedoch ein Halsband und musste somit ja irgendjemandem gehören. Ich tastete es ab, fand aber keinen Hinweis. Dann versuchte ich das viel zu eng sitzende Band zu lösen, was mich viel Kraft kostete, da es aus störrischem alten Leder bestand und die Schnalle schon leicht verrostet war. Aber auch im Inneren gab es nichts zu entdecken und so zog ich es ihm locker wieder an. Was sollte ich machen? Ich lief einfach weiter und hoffte, wir würden uns irgendwann soweit von seinem Zuhause entfernen, dass er freiwillig umkehrte. Aber das passierte nicht. Im Gegenteil benahm er sich wie MEIN Hund. Er blieb nah bei mir und wenn mich jemand ansprach lief er zu mir und setzte sich brav wartend neben mich. „No mi perro“ wurde zu meinem meist gebrauchten Satz „Nicht mein Hund“!

Der Nebel hielt sich und die Luft blieb frisch. Ich traf auf wenige weitere männliche Pilger und einer davon sprach mich sogar auf den offensichtlich fehlenden weiblichen Pilgeranteil auf diesem Camino an. Wo die Weiblichkeit der ersten Etappe abgeblieben war, war mir schleierhaft. Die Wege waren meist matschig oder steinig und „Babu“ (den Namen hatte meine vierbeinige Begleitung vorrübergehend von mir erhalten) glich inzwischen eindeutig einem Pilgerhund. Für die, die mein Buch nicht gelesen haben: You have to smell like shit, than you are a real pilgrim! Babu roch zwar nicht nach Scheiße, es sah aber eindeutig so aus, als ob er sich darin gewälzt hätte.
Doch wir sollten nicht lange nur zu zweit bleiben. Auf einem Weg mit feuchtem Waldboden entdeckte ich einen kleinen eingerollten Igel. Als ich ihn mit der Fußspitze leicht berührte, rollte er sich noch enger ein und gab mir damit die Gewissheit: Er lebte noch! Ich sah mich um und durchwühlte das angrenzende Gebüsch, entdecke aber keine weiteren kleinen Igel, geschweige denn die Mutter. Klar war: es wurde hier niemand zurückgelassen! Also den Rucksack geöffnet, das kleine Handtuch vom Decathlon (Vorsicht Schleichwerbung) herausgeholt und den Kleinen damit eingepackt. So weit, so gut. Und jetzt?

Ich lief erst einmal weiter und konnte mir ja währenddessen etwas einfallen lassen. Wir kamen auch an einigen einsprachigen und einsilbigen älteren Landwirten vorbei, die auf meine Bitte um Hilfe alle signalisierten: ,Schmeiß ihn ins Gebüsch‘.
Ich ignorierte dies und bog nach Tineo ein, um dort einen Tierarzt aufzusuchen. Das lag zwar nicht mehr auf dem Camino und ging steil bergab, aber das scherte mich in diesem Moment nicht. Nach viel Nachfragen und schließlicher Google-Suche, lief ich Richtung Arzt. Kurz bevor ich die Praxis erreicht hatte, kam mir die Policia Local entgegengefahren und ich signalisierte, dass ich Hilfe brauche (Wie, überlasse ich eurer Fantasie 😉).
Die sehr nette Polizistin und ihr Kollege hörten mir gut zu, stiegen dann aus und ich setzte Balu auf die Rückbank des Fahrzeugs. Kaum saß er darin, blickte er mich in geduckter Körperhaltung traurig an. Abschied nehmen! Das war meine Challenge dieses Caminos. Wir waren nur ca. 12 km gemeinsam einen Weg gelaufen. Er hatte gewartet, wenn ich stehenblieb und immer kontrolliert, ob ich ihm noch folgte. Und nun setzte ich ihn in ein Polizeiauto, welches ihn nach Hause bringen sollte. In welches Zuhause? Ein liebevolles, oder ein unemotionales? Mein Herz erlitt einen kleinen Riss, welcher aber unendlich schmerzte. Ich hoffe sehr, ihn nicht im Stich gelassen und zu sehr enttäuscht zu haben.
Ich zeigte der Polizei auch meinen kleinen Baby-Igel und wurde belehrt, dass dies in Spanien die ausgewachsene Ausgabe sei. Die Tatsache, dass wir direkt vor der Tierarztpraxis standen, bestätigte die Aussage der Polizei. Denn auch der Tierarzt war von einem Hedgehog-Adult überzeugt und meinte, ich solle ihn zugedeckt in ein Gebüsch legen.
Ich kam dieser Anweisung wenig überzeugt nach und benötigte auch hier ein paar Minuten des Abschieds. Im Falle des kleinen Igels wahrscheinlich der Abschied zu seinem letzten Weg, denn er wirkte dennoch krank und schwach.
Da kein weiterer Pilger unterwegs war, lief ich still weinend weiter. Abschied nehmen war fucking Scheiße! Bitte entschuldigt die rumänische Ausdrucksweise (Ein Insider aus meinem Buch und nicht wirklich auf Rumänen bezogen).

Inzwischen heizte sich Azurien auf seine angesagten 23 Grad auf und es wurde schwül. Ich bog an einer Ecke ab und wurde von einem Bauern zurückgepfiffen, welcher wohl so eine Art Pilgerzählung durchführte. Dafür gab es dann auch nen schönen Stempel in meinen Pilgerausweis und ne kleine Hortensie an meinen Rucksack. Na dann.
Ich entdeckte einen spielenden Hund und als ich die Spielgefährtin genauer betrachtete, erkannte ich… die junge deutsche Eva. Wir fingen an zu plaudern und ich setzte mich zu ihr. Schon bei unserem ersten Treffen empfand ich eine gewisse Zuneigung zu dieser jungen Frau, die mir, in meinen jungen Jahren, zudem noch optisch ähnelte. Die Pausbacken, die Knopfnase und Kopfform, die schöne Haut.
Und auch jetzt wurde das Gefühl immer stärker, dass uns etwas verband. Ihre Tierliebe glich identisch der meinen. Auch sie weigerte sich, Tiere aus purer Gereiztheit zu töten. Wir ordneten auch Menschen gleich ein, denen wir gemeinsam begegnet waren. Auch sie empfand den älteren Chinesen als unentspannt, oder bekam zu den gleichen Pilgern keinen Zugang. Ich fragte, ob sie denn alleine laufen wolle, doch sie meinte, ihr wäre meine Gesellschaft recht und so zogen wir gemeinsam los. Wir redeten erst nur über Tiere, meine verstorbenen Hunde, ihren Hund, Tiererlebnisse auf dem Camino, u.s.w.. Ich bekam immer mehr das Gefühl neben meinem jüngeren ,Ich’ zu laufen und starrte sie dabei oft von der Seite ungläubig an. Während ich dies schreibe, fällt mir auf, wie irre sich das anhören muss. Aber vielleicht könnt ihr dem Gefühl mehr Glauben schenken, wenn ihr die Geschichte weiter lest.
Wir liefen also nebeneinander her und sie begann plötzlich ihre Geschichte zu erzählen. Ihre Mutter litt lange unter Burnout und starken Depressionen. Eva hatte als kleines Kind erleben müssen, dass die Mutter das Bett nicht verlassen konnte, um sich um sie und ihre Schwester zu kümmern. Eine kranke Mama. Und Krankheiten sind oft ansteckend. Die kleine Eva zog sich zurück und ließ sich von ihren Eltern nicht mehr berühren. Selbst Dinge, welche die Eltern zuvor berührt hatten, fasste sie nicht mehr an. So entwickelte sie eine Zwangsstörung, die den Eltern die Möglichkeit entzog, ihr geliebtes Kind zu umarmen.
Eva redete sich den Schmerz ein weiteres Mal von ihrer Seele, denn es war sicher nicht das erste Mal. Die Tränen liefen über ihr hübsches Gesicht und sie meinte, dass wäre gut so, denn es war Zeit, dass es wieder einmal ausbräche. „Wieder einmal“…
Es war nicht ihre Schuld. Und doch fühlte sie sich schuldig. Ihren Eltern das angetan zu haben, beschäftigte sie noch immer. Ich fragte sie, was ihre Mutter zu ihr sagen würde. Sie meinte, dass ihre Mutter sagen würde, es war nicht ihre Schuld, sie hätte nichts falsch gemacht. Aber dieses Wissen konnte das tief sitzende Gefühl nicht aufheben. Es hatte keine Löschfunktion.
Ich erzählte ihr einen Teil meiner Geschichte und dass ich mich bei meiner Tochter entschuldigt hätte, weil ich in vielen Dingen nicht eher die Reißleine gezogen hatte und nie richtig für sie da war. Kim antwortete damals: „Ich bin stolz auf dich und ich hab dich lieb“.
Auch mir liefen jetzt ein paar Tränen und ich teilte Eva mein anfängliches Gefühl mit. Das Gefühl, sie wäre mein Gegenstück. Und Eva gab dies zurück.
Wir baten beide um eine Vergebung, die wir schon lange erhalten hatten. Nur nicht von uns selbst…
Eva erwähnte, dass es auch ihrer Mutter so ginge. Ich fragte, ob es möglicherweise gut wäre, dies bei ihrer Mutter nochmal direkt anzusprechen. Sie antwortete, dass dies eine gute Idee wäre, denn eine richtige Aussprache hätte es hier nie gegeben. Ich wünsche ihr so sehr, dass es ihre beiden Seelen entlastet.
Wir kamen an den Scheidepunkt, an dem die Entscheidung getroffen wurde den ,Hospitales‘ mit weiteren 1400 Hm zu laufen oder den 4 km längeren Weg, welcher unten herum führte.
Eva wollte morgen die 7 km auf den Hospitales hoch und dort eine Nacht im Zelt verbringen und ich wollte den Hospitales ganz übersteigen. Somit suchten wir die Herberge Samblissmo am Fuße des Aufstiegs auf und warteten, bis sie öffnete. Inzwischen war es kurz vor 14:00 Uhr. Der Herbergsvater öffnete und teilte uns mit, dass er komplett ausgebucht wäre. Auch ein Zelten Evas duldete er nicht, da seine Wasserreserven knapp wären und somit eine Toiletten- oder Duschnutzung nicht möglich sei.
Eva entschloss daraufhin nun sofort noch die 7 km zur Spitze zu laufen, da sie heute erst 23 km gelaufen und noch motiviert sei. Da die gesamte Überquerung ca. 24 km betrug und ich schon 36 km unterwegs war, rief ich bei der nächsten Herberge an und bekam dort noch problemfrei ein Bett.
Nun kam der nächste Abschied, von dem ich hoffte, dass er keiner sei. Wir standen, von einem Fuß auf den anderen tretend voreinander, bis Eva die Arme öffnete und fragte, ob sie mich drücken dürfe. Das taten wir dann auch und es tat gut. Sie sah mich an und meinte, sie wäre glücklich mir begegnet zu sein. Der Kloß in meinem Hals wollte mich gefühlt ersticken, denn auch ich fühlte so.
Auf meinem Weg zur Herberge dachte ich ausschließlich an Eva und ihre traurige Geschichte. Ich hatte sie im Übrigen gefragt, ob ich sie erzählen dürfe und sie meinte: Gerne und sie fühle sich sogar etwas geehrt.
Meine Herberge ist toll und ich konnte mit einer Amerikanerin sogar nochmal mein Englisch aufbessern, welches inzwischen, glaube ich, ganz gut ist. Ich teile eines der Zimmer mit zwei netten Engländern, die meinen frühen Aufbruch morgen leider ertragen müssen. Aber das ist geklärt!
Insgesamt habe ich heute ca. 38,5 km zurückgelegt. Ich bin stolz und zufrieden mit meinen Leistungen, die ich tatsächlich nie anstrebe. Im Gegenteil laufe ich so entspannt wie nie und immer ohne Ziel.

Liebe Eva, du bist eines der erstaunlichsten 19jährigen Mädchen, welche ich je kennenlernen durfte. Stark und doch so sensibel. Mein Wunsch heute Abend: Hoffentlich sehe ich dich wieder..
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