Am gestrigen Abend lernte ich David aus Amsterdam kennen. Er sprach sehr gut deutsch und wir plauderten eine ganze Weile, obwohl er mich zu Beginn nach dem „Restroom“ gefragt hatte. Anscheinend war es nicht so dringend 😂. Er war direkt von Amsterdam vor 2,5 Monaten gestartet und erntete damit meinen größten Respekt. Auch wenn er die Bergtouren meidete und lieber an der Straße lief. Es war schließlich SEIN Camino 🤷🏻‍♀️. DEN Jakobsweg gibt es nämlich ebenso wenig, wie DEN Camino del Norte. Auf meinem bisherigen Weg hatte ich immer die Wahl: gehe ich einen der Wege der Wander- Pilgerer, der Rad-Pilgerer, am Meer entlang oder über die Berge, biege ich ab und wähle einen schönen Umweg oder eine entspanntere Abkürzung. Inzwischen weiß ich, dass jeder SEINEN Weg wählt! Wählen sollte☝🏻! Der gelbe Pfeil gibt dir nur ab und an die Gewissheit, dass Du in „Richtung“ Santiago gehst 🤷🏻‍♀️. Obwohl dies jeden Morgen natürlich auch mein eigener Schatten tut 😉:

Um 6:30 Uhr wachte ich heute morgen bleiern auf und quälte mich aus dem quietschenden Bett. Da ich das Zimmer alleine belegt hatte, musste ich bezüglich der Lautstärke keine Rücksicht nehmen und war somit zügig mit dem packen fertig. Mein Holländer war schon ausgeflogen, denn er hatte für die restliche Tour nur noch 3 Wochen Zeit. Alle weiteren Türen waren noch geschlossen und es tönte ab und an ein leises Schnarchen hindurch. Ich schnappte meinen Stock und zog um 7:10 Uhr los. Die Stadt erwachte gerade erst zum Leben. Einige spanische Geschäftsleute fegten müde den Platz vor ihrem Geschäft. Am Rande der Stadt wurde der Wochenmarkt aufgebaut und vor einem Gebäude goss nur der „Steinmann“ die Bäume mit trockenem Wasser.

Da ich ohne Ziel startete, saß mir auch Fräulein Ehrgeiz nicht trommelnd im Genick. Ich lief an einer Straße entlang und blickte auf das Meer mit dem davor ruhenden Strand. Außer einem Pärchen mit zwei spielenden Hunden und den Schülern der Surfschule, hatte noch niemand einen Fußabdruck in den frisch „gebügelten“ Sand gedrückt. Spontan bog ich ab und stiefelte mit meinen Wanderschuhen quer über den Strand in Richtung Wasser. Dort entledigte ich mich meiner Fußbekleidung und stellte mich so in den feuchten Sand, dass jede ankommende Welle meine Füße umspülte. Was für ein erfrischendes Gefühl! Ich lief am Rande des Wassers bis zum Strandende durch und traf dort auf eine ältere Dame mit vier Hunden. Sie fragte mich spontan: „Where are you going?“ und ich antwortete: „Santiago“. Sie meinte: „That‘s far away“ und ich erwiderte: „Not, if it is your goal“. Sie lachte und wünschte mir einen „buen camino“.

Ich lief noch barfuß, bis ich wieder an der Straße war. Dort entsandete ich meine Füße sorgfältig und schlüpfte wieder in meine fantastischen Camino-Socken, die mich bisher vor Blasen bewart hatten. Ich war erst knapp 6 km gelaufen, als ich einen schönen Rastplatz entdeckte. Dort wollte ich erst einmal frühstücken. Ich hatte beschlossen meinen Weg heute an der Straße weiterzuführen. Ich brauchte etwas Abwechslung, wollte mal etwas Dorf- und Städteluft schnuppern und brauchte zudem dringend eine Apotheke. Die „Pilgerkrätze“ (schreckliches Wort 🙄) war zwar ungefährlich, konnte aber bei längerem Bestehen dunkle Flecken auf den Beinen hinterlassen. Google empfahl Stützstrümpfe, die mir jedoch zu teuer und sicherlich schwer aufzutreiben waren. Ich wollte mir Mullbinden besorgen (hätte ich die von der Niederländerin mal angenommen 🙄) und mir damit beide Beine fest umwickeln. Außerdem benötigte ich immer noch etwas gegen die leichte Entzündung am Zahnfleisch.

Auf meinem Weg durch die Ortschaften Arnuero und Galiziano fiel mir auf, dass (ähnlich, wie in Deutschland) einige Bauunternehmen mit „copy and paste“ ganze Siedlungen erstellt hatten.

In Arnuero hatte man am Straßenrand eine Reihe „kriechende Kletterspindel“ gepflanzt, und irgendjemand hatte einen Kaktus dazwischengesetzt. Dieser blühte prachtvoll und „stach“ somit hervor. Als wollte er sagen: ‚Seht her! In mir steckt etwas Schönes, was vielleicht nicht immer zu erkennen ist. Aber es ist da!‘

Nach ca. 15 km traf ich endlich auf eine Apotheke. Die ausschließlich spanisch sprechende Apothekerin mühte sich bezüglich meiner Zahnfleisch-Wünsche mit dem Anbringen aller möglichen Arzneimittel. Kamillosan war leider nicht dabei, was zu Hause bisher meine Sofortmaßnahme bei jedem kleinen Anzeichen von Mundinfektionen gewesen war. Dieses hatte Spanien nicht in seinem medizinischen Selbsthilfeprogramm 🤷🏻‍♀️. Ich wählte ein Mittel, bei dem ich überzeugt war, dass schon die aggressive Farbe alle Bakterien vertreiben müsste. Nun war ich versorgt mit Mullbinden und dem roten „Entzündungs-Schreck“ und suchte einen schönen Platz für einen Mittags-Snack. Direkt an der Straße wollte ich meine Pause nicht verbringen und so bog ich nach Ajo (noch vor Galiziano) rechts ab. Dort fand ich tatsächlich ein heimeliges Plätzchen und lud nun erst einmal den körperlichen Akku auf. Anschließend bandagierte ich beide Beine und kostete die scharf schmeckende Spülung 😵‍💫. Dann ließ ich mit geschlossenen Augen noch kurz die Seele baumeln und wackelte ziellos weiter.

Inzwischen war es 14:30 Uhr und ich sollte mir demnächst nun doch Gedanken über eine Übernachtungsmöglichkeit machen, da der Himmel sich auch langsam zuzog.

Über booking.com fand ich in Loredo ein Skate- und Surfhostel für 19€ inklusive Frühstück. Das nahm auch lahmende Pilgerinnen 😉. Bis dorthin war es ein Fußmarsch von etwa 2 Stunden. Nun hatte ich ein Ziel, war aber dennoch tiefenentspannt und wählte zum Ende dieser Etappe wieder den ausgeschriebenen Caminoweg. Und auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht! Er führte mich wieder ans Meer mit einer berauschenden Aussicht auf Strände und Klippen. Und obwohl ich längst wieder humpelnd unterwegs war und mein Hostel in der entgegengesetzten Richtung lag, bestieg ich den kurzen aber steilen Hang hinauf zur höchsten Klippe. Dort setzte ich mich ins Gras und genoss die Aussicht. Das war eines der Gründe für speziell diesen Camino: die Landschaft!

Auf meinem Weg zum Hostel kam ich an einem Campingplatz vorbei. Ein sehr großer junger Mann winkte mir zu und fragte, ob ich Wasser bräuchte. Ich schüttelte den Kopf und erwiderte, ich sei versorgt. Daraufhin zog er einen der Campingstühle zurück, deutete darauf und meinte: „ Than a beer?“ Ich lachte, dankte, schüttelte abermals den Kopf und lief weiter. Der Frau in mir hatte es jedoch dennoch geschmeichelt 😉. Ich kam 45 Minuten später, um 17:15 Uhr am Hostel an und war beeindruckt! Sauber, junges freundliches Personal und ein toller Außenbereich mit Restaurant und Bar. Es war auch sehr gut besucht und die Kinder tobten mit ihren Skateboards über eine kleine Trainingsfläche. Selbst die Kleinsten beherrschten hier schon unglaubliche Tricks. Ich setzte mich mit einem Bier an einen Tisch direkt an die kleine Skatebahn und schrieb meine heutigen Erlebnisse in diesen Blog. Leider wurden die gesamten Aufzeichnungen nicht gespeichert. Etwas genervt entschloss ich mich, das Bett aufzusuchen und am kommenden Morgen neu mit den Aufzeichnungen zu beginnen. Ich stand um 7:00 Uhr auf. Das Bett war leider sehr hart und ich hatte wohl ebenso wenig geschlafen, wie meine sich ebenfalls stark und laut wälzenden Zimmergenossinnen. Um 7:30 Uhr gab es ein tolles Frühstücksbuffet. Es regnete in Strömen und ich fragte nach einer Möglichkeit meine Wäsche zu waschen. Diese gab es. Allerdings dauerte Waschen und Trocknen gute 2 Stunden. Zeit, um gestrieg verlorenen Aufschrieb neu anzugehen ☝🏻!

Ich hatte am gestrigen Tage viel nachgedacht. Speziell über erhaltene Kommentare, die oft Sorge, Neid und Bewunderung ausdrücken. Ich wünsche mir, dass ihr meine Berichte mit Spaß und manchmal mit Nachdenklichkeit lest und euch an den Bildern erfreut. Aber der Camino ist nun mal kein Spaziergang. Außer Sarina, Milena, Adrian und David sind mir keine weiteren Solo- Pilgerer begegnet. Oft sind es Paare in verschiedenen Konstellationen und die meisten starteten hier erst ab Bilbao und laufen auch nur eine kurze Etappe. Für diese Paare mag es ein „Wander-Urlaub“ sein. Ausschließlich alle, mit denen ich über ein „buen camino“ hinaus ins Gespräch kam, hatten dicke Blasen an den Füßen, welche sie mit Hilfe von Nadel und Faden gitterförmig eingenäht hatten, um damit die Flüssigkeit abfließen zu lassen, aber die schützende Haut darüber zu belassen. Einige hatten aufgrund des schweren Rucksacks, Genickschmerzen und nässende Abschürfungen an Hüfte und Schultern. Dort, wo die schwere Last dauerhaft drückt und reibt. In Santon(j)a kam mir ein kräftiger junger Mann in Unterhosen entgegen, der an seinen Innenschenkeln große Pflaster trug, da er sich diese wundgerieben hatte. Und ich war auch nicht die einzige humpelnde Pilgerin auf diesem Weg. Für den ein oder anderen mag es ein spannendes Abenteuer oder einfach nur Urlaub sein. Aber viele nehmen diese Blessuren nicht nur zum Spaß auf sich. Und auch wenn es keiner direkt ausspricht, weil es eventuell viel zu klischeehaft klingen mag, so sind hier doch viele auf der Suche. Nach was, das kann ich euch leider nicht erzählen, denn… was auf dem Camino besprochen wird, das bleibt auf dem Camino 😉!