29.07.21 Letzter Etappentag! Heute mit nur maximal 15km Strecke. Ich erwachte um kurz vor 6:00 Uhr, begab mich in den Waschraum und anschließend in die Küche. Dort kochte ich Kaffee und da ich keine Milch hatte, pimpte ich die schwarze Brühe mit ein wenig Cappuccinopulver auf, welches ich noch in meinem Rucksack hatte. Der gestrige Einkauf sah ein Croissant und ein Jogurt zum Frühstück vor und beides wurde verspeist. Anschließend beendete ich meinen Blogeintrag des gestrigen Tages. Um ca. 8:00 Uhr stieß Adelina zu mir und wir lümmelten noch etwas auf der wirklich bequemen Couch der Herberge herum. Es eilte uns nicht und somit waren wir auch um kurz nach 9:00 Uhr die letzten Pilger, die die Unterkunft verließen. Adelina hatte letzte Nacht im Stockbett das obere Quartier belegt und da dies mitten im Raum stand, war die linke Bettseite völlig offen. Aus Angst, das Bett unfreiwilligerweise in der Nacht auf dieser Seite zu verlassen und somit als breiter Pilgerfladen auf dem Fussboden zu enden, hatte sie sich die Nacht am rechten Bettrahmen festgeklammert und dementsprechend wenig geschlafen. Im Gegensatz zu mir, da mich inzwischen wohl nicht mal mehr die nächtlichen Schnarchkonzerte zu stören schienen und ich mich im Gegenteil herzhaft daran beteiligte. Doch unser letzter Tag sollte von nichts getrübt werden. Wir waren fröhlich motiviert und glücklich. Die ersten Minuten blies ein eiskalter Wind, der sich aufgrund der wärmenden Sonne bald in ein laues Lüftchen verwandelte. Wir verließen die schöne Stadt Cee und liefen an der Küste entlang Richtung Finisterre.

Die kurze Endetappe zeigte noch einmal, was sie konnte und gestaltete sich zwischendurch als anspruchsvolle Berg- und Talbahn. Einige steinige Abhänge waren so steil, dass man trotz Wanderschuhen ins Schlittern geriet und ich beschloss, ein letztes Mal meinen Reverse-Movie-Move anzuwenden. Doch zwischendurch wurde der Pilger immer wieder belohnt und der Camino bewies aufs Neue, dass er jeden schweren Atemzug wert war. Duftende Waldwege, fantastische Aussichten und Strandbuchten, die zur Rast einluden. Wir liefen unsere letzten Kilometer meist schweigend, aber mit einem Lächeln im Gesicht. An einer anfangs noch sehr einsamen Bucht machten wir Rast, zogen unsere Schuhe aus und wateten wieder einmal durch das eiskalte Wasser des Atlantiks. Leider währte die Ruhe nicht lange, da auch andere Pilger an diesem schönen Ort nicht tatenlos vorbeigingen. Aber für einen kurzen Moment konnten wir die Ruhe und Geborgenheit dieser Bucht genießen und waren dankbar dafür. Vielleicht hätte ich auf diesem letzten Weg traurig sein müssen, aber ich war es nicht. Im Gegenteil fühlte ich nichts als Glück und innere Zufriedenheit. Möglich, dass das Gefühl des Abschieds erst heute Abend am Kap einsetzte, denn hier war dann tatsächlich unser Camino zu Ende. Momentan aber genossen wir jeden „fucking“ Augenblick.

Allmählich kamen wir Finisterre immer näher. Ich ließ Pianomusik auf meinem Handy laufen, da sie nach meinem Gefühl den Weg und die Stimmung unterstrich. Es fühlte sich feierlich an und gab mir diese Momente, die ich beim Einzug in Santiago de Compostela so vermisst hatte. Ein wenig Ehrfurcht, ein wenig Stolz, ein wenig Freude. Nach wie vor nicht über das erreichte Ziel, sondern über den zurückgelegten Weg mit all seinen Hürden und Emotionen. Und ich würde morgen noch meine letzte Muschel füllen. Die vierte trug inzwischen das Herz, für die Eigenschaft, die Judith in mir gesehen und ich in mir erkannt hatte.

Wir kamen an einem Stand vorbei, an dem wohl ein Pilger seine Sammlung an Muscheln für eine Spende anbot und ich bat Adelina kurz zu warten. Ich wollte mir hier nun endlich eine Jakobsmuschel aussuchen. Keine von denen, die man in einem Souvenierladen findet und die an einem roten Faden den Rucksack eines fast jeden Pilgrims schmückten; sondern eine naturbelassene mit all ihren kleinen ‚Makeln‘. Ich zog mein letztes Kleingeld von 1,35 € aus meinem Geldbeutel und legte es in das Spenden-Glas. Dann suchte ich mir meine Muschel aus und wir konnten, ich nun noch etwas glücklicher, weiterziehen.

In Finisterre gönnten wir uns erst einmal einen Kaffee (Adelina ohne Milch, da ihr Magen noch immer nicht in Ordnung war) und ich mir ein leckeres Eis. Dann suchten wir unsere Unterkunft auf und ließen uns von dem sympathischen Herbergsvater erklären, wie und wann morgen die Busse nach Santiago fahren (da von dort unser Flug ging) und woher wir hier unsere weitere Urkunde bezüglich des nun erneuten Ziels erhalten würden. Anschließend ging es zum Strand, an dem uns auch heute der Wind um die Ohren blies und den gestern so mühevoll abgewaschenen Sand wieder an die gleichen Stellen unseres Körpers platzierte. Wir relaxten ein wenig und ich lief noch einmal mit meinen Füßen durch das eiskalte Wasser. Ein komplettes Bad wollte ich aufgrund des neuen Tattoos noch nicht wagen, da ich auch nichts hatte, um dies abzudecken. Der Hunger machte sich ein wenig bemerkbar, so dass wir zusammenpackten und zu einem Seafood- Restaurant liefen, welches wir uns zuvor schon ausgeguckt hatten. Dies schloss in dem Moment, in dem wir eintrafen und würde erst wieder gegen 19:00 Uhr öffnen. Die Spanier mit ihrer (,Fuck‘) Siesta 🤷🏻‍♀️. So liefen wir zur Touristikinformation, um uns dort wenigstens unser Zertifikat abzuholen. Die Menschenschlange lud zwar nicht zum Warten ein, aber es blieb uns keine andere Wahl. Nach einer guten Stunde hielten wir das Erwünschte stolz in unseren Händen. Diesmal fühlte es sich auch gut an, da die freundliche Mitarbeiterin ihr bestes gab, um zumindest einen Hauch von Feierlichkeit mit einem sehr netten „Gratulation“ bei der Überreichung zu vermitteln.

Nun freuten wir uns erst einmal auf die Dusche und ein kurzes Verweilen in unserer Albergue. Anschließend ging es dann ein weiteres Mal in Richtung ,Seafood‘. Inzwischen war es so kalt geworden, dass wir beschlossen ein Restaurant mit sonnigen Plätzen zu wählen und dafür etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Es ist nunmal immer alles eine Frage der Priorität. Auf einem großen Platz direkt am Hafen fanden sich Unmengen an Restaurants, bei denen man die Speisekarte über einen QR- Code abrufen konnte. Adelina war in diesem Fall ein Fan der ‚oldschoolen‘ Speisekarte und diese befand sich doch tatsächlich vor einem dieser Restaurants auf einem schönen Holzständer. Damit war die Wahl getroffen und wir besetzten hier den letzten Sonnenplatz. Das Kellner, denn wir konnten uns bei dem Geschlecht der arbeitseifrigen und dominanten Person nicht einigen, sprach in einem übereifrigem spanischen Wortschwall auf uns ein und war bemüht uns für ein 4€ teureres Gericht zu begeistern, da es unserem ähnelte, aber, laut dessen Aussage, mehr Quantität hatte und zusätzlich noch eine Flasche Wein inkludierte. Ich wollte jedoch partout ein Bier und Adelina weigerte sich, die Flasche Wein alleine zu trinken. Somit machte ich unmissverständlich klar, dass es bei dem günstigeren Gericht, einer Seafoodplatte, bleiben sollte. Dazu gab es vorab noch einen gemeinsamen Meeresfrüchtesalat. Nach so viel Wassergetier würden wir anschließend wahrscheinlich ans Ende der Welt schwimmen.

Nach unserem wirklich gelungenen und ausgezeichneten Abschiedsessen war es recht spät geworden und wir hatten noch gute 2,5 km bis zum Kap de Finisterre vor uns, da wir uns dort den Sonnenuntergang ansehen wollten. Das besagten die Regeln: 1. Gehe schwimmen (in unserem Fall war dies eher ein Fußbad, das ließen wir aber gelten) 2. Sieh dir den Sonnenuntergang am Ende der Welt an und 3. Verbrenne etwas (vorzugsweise alles, was Du nicht mit nach Hause nehmen willst. In unserem Fall schrieben wir alles Negative aus unserem Leben auf ein Blatt Papier). Der Sonnenuntergang nahte und so mussten wir uns sputen. Das Seafood in meinem Magen wurde bei der Hetzerei gefühlt wieder zum Leben erweckt, und forderte seine Freiheit. Doch für solche Spielchen war nun keine Zeit und somit unterdrückte ich den aufkommenden Brechreiz. Wir schafften es gerade rechtzeitig, suchten uns auf dem mittelmäßig gefüllten Meereshang einen schönen Platz auf einem Stein, genossen die traumhafte Aussicht auf das Meer und die untergehende Sonne. Das warme Bier vom Supermarkt in der Hand beobachtete ich das Schönste, was ich jemals erleben durfte. Einen Sonnenuntergang, der den Horizont in prächtiges orange einfärbte und dabei seine Strahlen über das ruhige und funkelnde Wasser warf. Wir konnten nicht sprechen. Nicht einmal atmen. Die Dose Bier fest umklammert saß ich da und kämpfte mit den schon wieder aufsteigenden Tränen. Im Augenwinkel nahm ich Adelinas Bewegungen war, die eindeutig die gleichen Anzeichen zeigten. Irgendwann kullerte das salzige Wasser dann doch aus meinen Augen und ich beschloss, dass es am Ende meiner Reise auf ein paar Tränen mehr oder weniger nun auch nicht mehr ankam. Das Ende! Der Untergang der Sonne schien dieses noch zu unterstreichen. Nachdem nur noch ein schmaler, orangefarbener Streifen die Stelle markierte, an der die Sonne unseren Teil der Erde verlassen hatte, legte ich meinen Kopf auf Adelinas Schultern und sagte leise: „Nice to have met you, rumanian girl“. Sie legte den Arm um mich und wir weinten noch still gemeinsam.

Adelina sagte anschließend: „Es ist nicht das Ende, es ist ein neuer Anfang“. Wir holten unsere Zettel heraus und Adelina zerknüllte den ihren, während ich meinen auf deutsche Art fein säuberlich faltete. Dann zündete sie ihren an und wir achteten darauf, dass keine Glut auf das trockene Gestrüpp übersprang. Anschließend hielt ich das Feuer an mein ‚Päckchen‘, was aufgrund der Falttechnik zwar deutlich sicherer war, aber auch weitaus länger benötigte, bis sich nur noch ein Häufchen Asche wiederfand. Wir saßen noch ein Weilchen auf unserem Stein und redeten über unseren verrückten Weg der letzten Wochen, bis die Dunkelheit uns zum Rückzug zwang. Der Weg zur Herberge erschien uns deutlich kürzer und mein Mageninhalt war nun glücklicherweise aufgrund der Magensäure auch ruhiggestellt.

Meine Reise ist nun beendet. Ich werde morgen den Weg zur Bushaltestelle nehmen, ohne dabei nach gelben Pfeilen zu suchen. Ich werde Adelina nicht mehr fragen: „Are we on the camino?“. Und ich weiß, wo ich die nächsten Tage und Wochen schlafen werde. Doch ich werde mich erinnern! An alles und an jeden! Denn ich habe es notiert. In meinem Herzen und in diesem Blog. Ich schäme mich meiner dargelegten Gefühle nicht. Morgen fliege ich nach Deutschland zurück. Meine letzte Muschel wird eine nordische Rune zieren. Es ist das Zeichen für ,Mut‘.