Das Ende des Ziels erreicht!
22.07.21 Unterkunftsmäßig waren wir für die kommende Nacht versorgt und hätten somit ausschlafen können, da uns nichts trieb. Mein Körper beschloss dennoch, um 6:00 Uhr zu erwachen und fit zu sein. Da die anderen beiden noch im tiefen Schönheitsschlaf lagen, beendete ich meinen Blogeintrag vom gestrigen Tag. Um ca. 7:15 Uhr erwachte auch Judith, nahm ihr Handy zur Hand und war wohl auch noch nicht ansprechbar. Ich stand, nachdem ich den Beitrag veröffentlicht hatte, auf und begab mich ins Bad. Um 8:30 Uhr saßen Judith und ich beim Frühstück. Adelina hatte sich mit ihrem Kaffee ins Freie verzogen, damit sie ihre Morgen- Zigarette rauchen konnte. Wir starteten spät um 9:00 Uhr.

Die ersten 300 Meter schien die Welt auf ‚unserem‘ Camino auch noch in Ordnung zu sein, doch dann begann, zumindest für mich, das absolute Grauen. Bars, Souveniershops oder andere touristische Verkaufsstände folgten gefühlt alle 100 Meter aufeinander. Es ist nicht so, dass ich nicht gerne nach Mitbringseln oder Nippes schaue, und auch einmal etwas kaufe. Aber hier gehörte das nicht her und störte extrem mein bisheriges Weges- Gefühl. Getoppt wurde das mit einer Anzahl an Pilgern, die für mich unübertrefflich schien. Ich weiß nicht, wie es Judith oder Adelina ging, aber ich fühlte mich unwohl. Natürlich hatte jeder das Recht in den Camino einzusteigen wann er will und zudem trafen hier inzwischen drei Wege zusammen: Camino Frances, Camino Primitivo und Camino del Norte. Dazu kamen noch die Pilger, die nur die letzten 100 km liefen oder per Bus in Gruppen angereist waren. Ich behaupte ein toleranter Mensch zu sein, aber in meinem Inneren war das Maß tatsächlich übertroffen. Schon jetzt fiel die Entscheidung, den kommenden Morgen früh zu starten um zumindest einige Stunden diesem Trubel entgehen zu können. Festival mit vielen Menschen am Sonntag- ja! Tausende von Pilgern auf meinem Weg- nein! Vielleicht verrückt, aber so war es eben.


Wir waren einige Kilometer in diesem Menschenfluss mitgeschwommen und allmählich nahte die Zeit, um eine Pause einzulegen. Der Gedanke, mich in diesem Tourismusrummel an einer Bar unter die Meute zu mischen, erschien mir krotesk und unmöglich. Aber inzwischen fanden sich nirgends mehr öffentliche Wasserstellen, um meine Flasche aufzufüllen und auch die Energie sackte ab. Ich schlug somit den Mädels vor, in der nächsten Bar einen Kaffee für uns zu ordern, mit welchem wir uns dann ,auf den Acker’ machen könnten, um dem Trubel ein wenig zu umgehen. Wir suchten uns somit, mit frischem Kaffee eingedeckt, auf einer Wiese ein schönes Plätzchen und ich setzte mich mit dem Rücken zur touristischen Pilgermeute, und versuchte auch deren Geräusche auszublenden. Warum ich solche Probleme mit der neuen Situation hatte, kann ich nicht genau erklären. Aber ich spürte, dass mich meine Energie verließ und mir das Atmen extrem schwer fiel. Ich konzentrierte mich auf meinen Schritt und meinen Weg und kam so dem Ziel Pedrouzo immer näher. Von diesem Ort waren es dann nur noch 20 km bis Santiago.


Irgendwann kamen wir irgendwie an. Die Herberge war sehr sauber und bot einige, allerdings kostenpflichtige, Möglichkeiten, wie Pool und Waschmaschine. Somit wusch ich unter anderem meine Wäsche und planschte wärendessen im Pool um meine steifen Glieder zu lockern. Anschließend suchte ich den 300m entfernten Supermarkt auf und kaufte für die Mädels und mich eine Flasche Rotwein. Dummerweise hatte Judith die gleiche Idee und so saßen wir am Abend zu dritt mit zwei Flaschen Vino tinto am Pool. Wir führten ernste Gespräche, hauptsächlich über die Zustände in Rumänien. Adelina erzählte von den Schulen, die viele Kinder unter anderem auch wegen der kleinen Essenszugabe besuchten, da diese kostenfrei ausgegeben wurden. Nachdem aufgrund der Pandemie diese geschlossen wurden, hatten die Kinder nun auch nichts mehr zu essen. Homeschooling fiel auch weg, da weder Elektrizität noch Computer zur Verfügung standen. Es gab noch viele bedrückende Geschichten und mir wurde wieder einmal bewusst, wie dankbar man sein konnte, in einem Land wie dem unseren geboren worden zu sein. Adelina war müde und verließ uns etwas früher, um ins Bett zu gehen. Judith und ich zogen daraufhin etwas lockerere Themen vor, und saßen bald darauf feixend und lachend am Tisch. Vor einigen Tagen hatte Adelina erwähnt, dass meine Gesichtszüge häufig wechseln würden von überglücklich bis sehr betrübt. Ich hatte ihren Worten keine große Bedeutung geschenkt. Doch mitten in die gute Abendlaune hinein sagte plötzlich Judith: „Du bist oft so happy und dann wieder so unendlich traurig?“ Ich antwortete auf diese versteckte Frage nicht und zuckte stattdessen nur mit den Schultern. Denn trotz des Wissens, dass es nun nach Santiago noch weitergehen würde, konnte ich die Trauer über das baldige Ende meiner Reise nicht wirklich unterdrücken.
Von meinen gesammelten Muscheln waren inzwischen zwei zerbrochen und somit nur noch fünf übrig. Ich wertete dies als Zeichen und war glücklich nun nur noch 3 Muscheln mit positiven Eigenschaften füllen zu müssen. Meine dritte hatte ich am heutigen Tag ausgemalt. Mit einem indianischen Zeichen für ‚Ausdauer‘. Wenn ich etwas möchte und davon überzeugt bin, kann ich sehr lange an der Umsetzung dieser ,Idee‘ festhalten und, wenn nötig, auch über einige Jahre diese Ausdauer zeigen. Meine Freunde könnten davon nicht nur ein Liedchen trällern, sondern wahrscheinlich ein ganzes Konzert damit füllen…


23.07.21 Ich hatte am gestrigen Abend erklärt, ich wolle so früh als möglich los, in der Hoffnung, dem Pilgeransturm ein wenig zu entrinnen. Judith wollte mit und Adelina hatte sich nicht geäußert. So schlich ich mich auf leisen Sohlen um 5:10 Uhr ins Bad gegenüber unserer Zimmertür und versuchte beide Mädels erst einmal nicht zu wecken. Auch beim Zurückkommen ins Zimmer bewegte ich mich langsam und vorsichtig. 15 Minuten bevor ich loswollte, es war 5:40 Uhr, weckte ich leise Judith, die sofort hellwach war. Ich flüsterte ihr leise zu, dass Adelina sich ja gestern nicht geäußert hätte und ich nun davon ausginge, sie wolle noch schlafen und erst später loslaufen. Ich fragte Judith, ob sie denn nun wirklich so früh mitwolle, denn ich würde demnächst gerne los. Judith setzte sich abrupt im oberen Teil des Stockbettes auf, haute den Lichtschalter an und rief: „Adeliiina! Come on! Let’s go to Santiago!“ Ich stand versteinert und dennoch grinsend vor Adelinas Bett und beobachtete, wie diese sich langsam aufsetzte und sich die Augen rieb. Ich sagte entschuldigend, dass ich nicht gewöllt hätte, dass Judith sie weckt, aber da sie nun schon einmal wach sei, könne sie entscheiden, ob sie so früh überhaupt mitwollte. Adelina sah mich müde an und meinte: „Du hättest mich hier zurückgelassen?“ Ich wollte dies gerade aufklären, als es ihrem Munde entschoss: „Fuck German!“ und dann hängte sie noch dran: „be more spanish!“ Wir lachten und beschlossen zeitgleich: „First Cofe☝🏻!“ Nach unserem Frühstück war es dann doch später, als von mir geplant und wir standen um 6:30 Uhr auf der Straße. Allerdings nicht alleine…

Es war unfassbar viel los. Aus jeder Ecke kamen Pilger und füllten den Camino. Es war schrecklich! Je mehr dieser fremden ‚Backpacker‘ zu uns stießen umso schneller wurde mein Schritt. Irgendwann hatte ich meine Mädels weit hinter mir gelassen. Sie hatten gestern vermutet, ich wolle lieber alleine gehen, was ich jedoch verneint hatte. Ich erklärte, ich würde mich dann schon absetzen, wenn ich für mich sein wolle. Aus diesem Grund kommentierten sie mein heutiges ‚Davonlaufen‘ nicht und ließen mich gewähren. Nach wenigen Kilometern hatte ich mich mit der Situation dieser ‚Ameisenstraße‘ zwar noch lange nicht angefreundet, ich war aber auf dem Weg der resignierenden Akzeptanz. Das Wetter trauerte wohl mit mir, denn es regnete in Strömen. Wir machten eine kurze Kaffeepause und holten uns noch einen weiteren Stempel für unsere Pilgerurkunde, obwohl in meinem Pass schon kein Platz mehr war und ich somit das Deckblatt bestempelte.



Es regnete tatsächlich durch! Der Einzug nach Santiago de Compostela sollte in nassen Schuhen und Socken erfolgen. Nicht ein einziges Mal während meines Weges hatte ich nasse Füße,- außer heute! Zusätzlich begann Mimikus nun wieder zu maulen, was ich aber definitiv bis Santiago ignorieren wollte. Ca. 5 km vor dem Ziel wurden wir abgepasst und uns wurde mitgeteilt, dass wir uns nun hier zu registrieren hätten. Ich hatte ja inzwischen die rumänische und spanische ‚Schule‘ besucht und hätte mich somit gegen diese Abfertigung wehren müssen, da meine ‚Lehrerinnen‘ jedoch fast wortlos folgten (Adelina kommentierte natürlich mit: „Fuck, was soll das denn?“), lief ich als brave Deutsche hinterher. Die Registrierung dauerte einige Minuten, da der Handy- Umgang mit aufgeweichten nassen Fingern etwas mühselig war. Judith hätte ab hier eigentlich einen anderen Weg einschlagen müssen, da sie eine Herberge in Monte de Gozo gebucht hatte. Aber wir wollten gemeinsam, wenn auch klatschnass, in Santiago einziehen und waren um ca. 11:00 Uhr dann auch dort.

Direkt am lustigen Ortsschild von Santiago trafen wir auf Rudika. Um ehrlich zu sein, hielt sich meine Freude in Grenzen, da Rudika eine sehr energieraubende Person war. Ich nickte ihr freundlich zu, signalisierte aber keinerlei Bedürfnis zu einem Gespräch. Zu meiner Entlastung muss ich jedoch sagen, dass sie keine Enttäuschung darüber zeigte. Ihr Interesse galt eher Adelina als mir. Tja, Adelina… ‚be sometimes more german‘ 🤷🏻♀️😜.


In Santiago war die Hölle los! Musiker spielten trotz Dauerregens, an jeder Ecke. Überall standen Gerüste, die den Platz vor der Kathedrale für das große Festival vorbereiteten. Es wimmelte vor Pilgern, Urlaubern und Reisegruppen. Diese Unruhe nahm mir den feierlichen Moment, den ich mir vielleicht erhofft hatte. Aber überrascht war ich dennoch nicht. Ich stand auf diesem Platz und schaltete alles um mich herum auf stumm, blickte an der Kathedrale hoch, bis ich die Massen nicht mehr sah und erinnerte mich: An meine erste Begegnung mit Sarina, an den schlimmen Weg nach San Sebastian, an das ruhige Bilbao, an Dawid und Milena, an meinen brummigen Engel vor Villavisciosa und die niederschmetternde Aussage des Arztes, an Eloy und ‚the silence Beach‘, an die Gruppe und unsere ‚Parties‘, an die wunderbaren Gespräche und zuletzt an meine Gefühle auf dem Camino. Ich stand weinend zwischen johlenden und feiernden Menschen und zog mein Basecap so tief wie möglich in mein Gesicht. Meine Mädchen ließen mich in Ruhe. Sie fühlten wohl, dass mir nicht zum Feiern zumute war. Mir hatte dieser Weg zu viel bedeutet, um jetzt sein Ende zu bejubeln.


Wir wollten unser ‚Credencial‘ und so liefen wir zum zuständigen Amt. Hier erfolgte eine weitere Registrierung und ein langes Anstehen, um sich mit der Registrierungsnummer eine weitere Nummer abzuholen, mit der man dann aufgerufen werden sollte. Manchmal herrschen auch in Spanien deutsche Verhältnisse… Ich hatte die Nummer 962 und momentan stand es bei 369. Somit Zeit genug, um einen weiteren Kaffee zu trinken, in der Pension einzuchecken und mit den Mädels durch die Geschäfte zu bummeln. Alles natürlich mit unseren durchweichten Füßen. Inzwischen war es 16:30 Uhr und wir waren hungrig und durchgefrohren. Wir setzten uns abwartend vor die Behörde, da es kurzzeitig zu regnen aufgehört hatte und der Scan des QR – Codes auf unserem Handy erst die Nummer 846 anzeigte. Wir hatten somit immer noch Zeit. Ich klapperte erfolglos die Straßen nach etwas zu essen ab. Restaurants ohne Ende, doch nirgends ein käuflicher Keks. Meine Füße fühlten sich nach beginnenden ‚Footbubbles‘ an, was nun wirklich die Krönung gewesen wäre. Da läuft man in 39 Tagen 840 km ohne eine einzige Blase an den Füßen und holt sich diese dann auf der Suche nach ein paar Cookies! Ich kaufte in einem Souvenierladen hässliche blaue Touri-Camino-Flip Flops für 3,90€ und wechselte diese gegen nasse Wanderschuhe und Socken. Endlich kamen wir an die Reihe und stellten uns wiederum in einer solchen an. Als meine Nummer angezeigt wurde, trat ich vor einen gelangweilten jungen Mann, der undeutlich in seine Maske brummelte: „Camino del Norte?“ Ich nickte „Start from Irun?“, ich bildete mir ein wenig Hochachtung in seinem Brummen ein und nickte wieder. Er krakelte meinen Namen auf ein vorgedrucktes Stück Papier, Stempel drauf, noch etwas gebrummelt, was ich auch beim zweiten Mal nachfragen nicht verstand und: der Nächste bitte! Ich trat heraus und blickte auf das Dokument, dass ich in meinen Händen hielt und mir nichts bedeutete! Der Rummel auf dem Platz, die Musik auf den Straßen und dieses wert- und lieblos überreichte Dokument konnten nichts von dem ersetzen oder krönen, was ich hinter mir gelassen hatte. Es fühlte sich eher nach einer Verhöhnung meines Weges an, als nach Wertschätzung. Der Weg war mein Ziel gewesen. Dessen wurde ich mir nun mehr als bewusst.
Morgen und am Sonntag waren die Haupttage des Festes zu Ehren des heiligen Jakobus. Wir würden voraussichtlich unsere Camino-Freunde wiedersehen, worauf ich mich sehr freute. Ich wollte versuchen den Camino loszulassen, um die Tage genießen zu können. Am Montag starte ich, ohne Erwartungshaltung, um dann noch das Ende der Welt zu erreichen: Finisterre!

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