16.07.21 Die zweite Nacht auf diesen spanischen „Steinmatratzen“ hatte mir den Rest gegeben. Ich stand mitten in der Nacht auf, um mir eine nach Eukalyptus riechende „Entspannungssalbe“ auf sämtliche Körperteile zu schmieren, an die ich ohne fremde Hilfe drankam. Das linderte für einen Moment die gefühlt eingerosteten Gelenke, verhalf aber nicht zum Schlaf. Heute war ich jedoch nicht der einzige Frühaufsteher und so endete diese zweite unentspannte Nacht um 6:30 Uhr. Um ca. 7:00 Uhr war auch der Rest der Meute auf den Beinen und ich verabschiedete mich von Eloy, da ich annahm ihn vor seiner Abreise nicht mehr zu treffen. Er würde morgen seinen Weg hier beenden. Adelina hoffte ich auf dem weiteren Weg noch das ein oder andere Mal zu begegnen. Ich hätte mich eventuell den beiden, die inzwischen den Weg immer im Duett liefen, anschließen können. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte mich allgemein ein wenig von dieser ,Gruppe‘ entfernen. Nicht, weil ich sie nicht mehr mochte, sondern weil ich das Gefühl hatte, dass ich durch diese Gruppendynamik Dinge versäumte, die ich eigentlich hier suchte. Ruhe, eigene Gedanken und vielleicht auch neue Begegnungen. Somit befand ich mich um 7:08 Uhr erst einmal alleine auf dem Camino. Kurz vor mir startete eine Spanierien, mit der ich den Tag zuvor kurz gesprochen hatte. Ich holte sie in dem Moment ein, als wir an einer Pferdekoppel vorbeikamen und eines der Tiere freudig auf sie zulief. Diese Situation war so herzerwärmend, dass ich stehenblieb und ihr auf englisch zurief: „Ich denke, dass Pferd mag dich!“ Sie lief zu dem Tier hin, aber aufgrund des elektrischen Zauns war kein Herankommen möglich. Menschen, die eine derartige Anziehung auf Tiere ausüben, können nur ein gutes Herz haben. Ich schloss mich ihr an und wir starteten unser Gespräch natürlich mit unserer Liebe zu den Vierbeinern. Ihr Name war Leia und sie kam aus Katalonien. Sie startete ebenfalls in Irun und würde heute ihren Mann in Abadin treffen, der dann weitere 5 Tage mit ihr bis Santiago laufen wollte. In Anbetracht der noch ausstehenden 140 km eine stramme Leistung von 28 km pro Tag. Leia war eine angenehme Weggenossin und auch unser Tempo harmonierte gut.

Unser Gespräch war kurzweilig und vielseitig, jedoch nicht zu tiefsinnig, was perfekt war. Ich befand mich seit dem gestrigen Tag auf einem ‚Wechselweg‘ der Gefühle. Hin- und hergerissen zwischen der Traurigkeit aufgrund der nun letzten Etappen und der Vorfreude auf die Menschen, die ich bald wiedersehen würde. Für tiefgründige und sehr emotionale Gespräche war in meinem Inneren momentan kein Milimeter mehr Platz. Mit Leia gestaltete sich der Weg auch deshalb so angenehm, da wir unabgesprochen aufeinander warteten, wenn der andere Fotos machte oder einen Schluck trinken wollte. Wir hatten ruhige Momente, in denen jeder seinen Gedanken nachging und Zeiten, in denen wir auch ein wenig herumalberten. In einem kleinen Ort names Mondonedo entschlossen wir zeitgleich einen Kaffee zu trinken. Hier sagte mir Leia auch, dass ich zukünftig zwei Stempel pro Tag für mein „Credencial del peregrino“, also meinen Pilgerausweis bräuchte. Wie diese in meinem noch Platz finden sollten, war mir jedoch schleierhaft.

Wir hatten heute zwei mögliche Caminowege: Der erste führte ca. 600 Höhenmeter über stark vernebelte Berge und der zweite hatte wohl nur ca. 250 Höhenmeter, war mit gut 28 – 30 km aber deutlich länger. Aufgrund der verhangenen Bergspitzen wählten wir die zweite Variante. Aber auch diese hatte es in sich und die inzwischen durchblitzende Sonne machte manche Aufstiege nicht leichter.

alter Kalkofen

Plötzlich hörte ich hinter uns auf dem Kies schnelle kurze Schritte und drehte mich um. Ich sah ‚Mr. Speedy Gonzales’ auf uns zukommen, welcher eigentlich Alex hieß und spanischer Elektriker war. Ich ging davon aus, dass er unter seiner kurzen Hose einen mechanischen Bewegungsapperat trug, denn ein normales Gehen konnte man seine Fortbewegung definitiv nicht mehr nennen. An diesem Punkt hatten Leia und ich schon unsere 25 km erreicht und Alex teilte uns mit, dass er heute noch gut 16 km laufen wollte. Er schloss sich uns dennoch ein wenig an und wir plauderten über Camino- Erfahrungen. Ich erzählte, dass ich in den ersten Tagen oft ganz alleine auf dem Weg gewesen war, ohne auch nur einem einzigen Pilger zu begegnen. Er meinte, dass wäre so, weil ich Zeit für mich gebraucht hätte. Der Camino würde uns zur rechten Zeit zeigen, was wir bräuchten. Ich stimmte ihm lachend zu. Doch als Leia und Alex spanische Gespräche führten, ging ich diesen Gedanken noch einmal durch. Und es stimmte nicht! Es war nicht der Camino, der uns zeigte, was wann gut für uns ist. Sondern wir selbst. Wir hatten in unserem hektischen Alltag nur vergessen, die Zeiten für die seelischen Bedürfnisse zu erkennen und einzuteilen. Der Camino gab uns dafür Raum und Zeit. Die Tage waren auf meinem Weg oft neblig gewesen und hatten den Blick auf eine fabelhafte Aussicht erschwert. Und dennoch gab es nur einen dieser Tage, den ich für mich zur Entladung von Wut, Trauer und Zorn nutzte. ICH wählte den richtigen Moment dafür.

Laut der Anzeige meiner Uhr hatte ich am Ende unsere Strecke 3350 Kilokalorien verbraucht. Ich hoffte, dass die einzig noch passende Hose bis zum Ende durchhalten würde 🙄.

Nach den letzten schlaflosen Nächten, rief Leia auf mein Bitten hin, in ihrer Pension an und orderte für mich ein Zimmer mit einem Peregrinopreis von 27€. Als wir um ca. 14:30 Uhr in Abadin ankamen, freute ich mich auf einen entspannten Tag. Ich duschte, wusch meine Wäsche und spazierte anschließend noch ein wenig durch den Ort. Genau 10 Minuten, größer war er nämlich nicht 🤷🏻‍♀️. Ich wollte mich gerade zu einem Kaffee niederlassen, da sprang ,Korke‘ 🤔? (ich glaube noch immer nicht, dass dies sein richtiger Name ist) aus der Bar, fragte, ob ich ein Bier wollte und wo Adelina sei. Ich wollte gerade sagen, dass ich dies nicht wüsste, als mein Blick die Straße hinunterfiel und mir Adelina und Eloy völlig fertig entgegenkamen. ‚Und täglich grüßt das Murmeltier‘ 😂. Wir setzten uns gemeinsam an die Bar und nun folgte ein Bier auf das nächste. Einige einheimische Jungs packten die Musikbox aus und spielten wechselweise rumänische Volkstänze, Bachata und Merengue. Es wurde getanzt, gejohlt und mindestens 6 Gläser fielen diesem Spektakel zum Opfer. Um ca. 17:45 Uhr löste sich die Truppe langsam auf und jeder ging auf sein Zimmer.

Der Nachmittag hatte Spaß gemacht und dennoch hatte ich das Gefühl, dass der Tag nicht nach meinen eigentlichen Wünschen verlaufen war. Ich wusste nicht, ob die Gruppe sich am späteren Abend noch einmal treffen wollte. Aber ich wusste, dass ich sicher nicht dabei sein würde. Ich hatte das Bedürfnis hierfür eigentlich ja schon vorher verloren und mich deshalb entschieden, mich zu entfernen. Dass ich nun doch wieder hineingerutscht war, war zwar im Nachhinein in Ordnung, dennoch würde ich morgen versuchen, mich räumlich zu entfernen. Es war MEIN Weg und das letzte Stück wollte ich, wenn möglich, zu einem großen Teil mit mir und meinen Gedanken alleine genießen.