08.07.21 Heute morgen weckten mich Kinderschreie, die von den Möwen beim Vorbeifliegen durch das kleine Zimmerfenster geworfen wurden. Um 7:14 Uhr betrat ich den Frühstücksraum, welcher laut „Gru“ erst ab 7:30 Uhr für das morgendliche Leibeswohl sorgen würde. Doch die Frühschicht, in Form eines Mannes mittleren Alters, hatte schon aufgetischt und ich gönnte mir einen Orangensaft, ein Aprikosencroissant und ein Madeleine- Küchelchen. „Grus“ Morgenvertretung sprach offensichtlich nur ein einziges Wort Spanisch, welches sowieso in allen Ländern gleich klingt: „Cafe?“ Ich antwortete zumindest mal mit : „Si, gracias“ und nahm dankbar die heiße Tasse entgegen. Da ich der einzige Gast war (der Übernachtungsrest war eine langschlafende Meute Halbwüchsiger mit Betreuung), beobachtete ich den merkwürdig stummen Kaffeezubereiter. Er war recht groß und lief gebückt. Wie ein geprügelter Hund. Unter seiner Basecap schlich sich dünnes, etwas längeres Haar hervor, und wenn er sich nicht bewegt und die Augen nicht offen gehabt hätte, man hätte vermuten können, er würde mit offenem Munde schlafen. Ich hätte ihn tatsächlich zu gerne von vorne fotografiert, wollte ihn aber nicht fragen. Wie hätte diese Frage auch aussehen sollen: „Entschuldigen Sie, könnte ich ein Foto von ihnen machen? Ich finde sie so skurril, dies möchte ich gerne auch für die Öffentlichkeit festhalten?“ Unverschämter geht kaum noch. Dieser Mann wirkte zudem gelangweilt und auch irgendwie bedrückt. Lebensfreude sieht definitiv anders aus. Als ich mich verabschiedete, drückte er mir noch wortlos einen Apfel in die Hand und nickte mir so aufmunternd zu, wie es seine starre Mimik gerade noch zuließ. Ich bedankte mich und verließ um 7:35 Uhr die Herberge.

Gijon konnte mich leider auch an diesem Morgen nicht von sich überzeugen. Diese Stadt versteckte ihre wirklich schönen alten Bauwerke unter mönströsen Wohn- und Geschäftsbunkern. Das wenige, was ich von der Altstadt während meines kurzen Aufenthalts sehen durfte, wirkte verwahrlost und vergessen. Gijon zeigte, zumindest mir, klar seine Prioritäten: Wirtschaftlichkeit, Konsum, Materialismus. Für eine große Stadt sind das ohne Zweifel wichtige Bausteine, in Gijon litt darunter jedoch aus meiner Sicht, Charme und Ästhetik.

Auch der Strand lud leider nicht zum Verweilen ein, was ich jedoch sowieso nicht geplant hatte und somit der reinen Unterstreichung dient. Allerdings muss ich gestehen, dass mir die Art Gijons, Einwohner und Gäste zur Müllentsorgung zu motivieren, durchaus ein Schmunzeln entlockte. Die großen und sonst sehr unansehnlichen Müllkontainer trugen hier nämlich Outfits bekannter Disneyfiguren.

Wie inzwischen bekannt, findet man in Großstädten selten die geliebten gelben Pfeile, nach denen ich heute planmäßig laufen wollte. Gijon hatte ersatzweise alle 10-20 Meter goldene Jakobsmuscheln in den Boden eingelassen. Über das Thema Protzerei möchte ich mich hier dennoch nicht mehr weiter äußern 😉. Plötzlich hielt neben mir ein silberner Kastenwagen und aus dem geöffneten Seitenfenster blickte mir der wortarme Mr. „Cafe?“ entgegen. Er rief mir mehrere spanische Sätze zu, die ich aufgrund der verblüffenden Tatsache, dass er sprechen konnte, erst einmal nicht deuten konnte. Jedoch wurde schnell klar, dass er mich fragte, ob ich denn gezahlt hätte. Mit langezogenen Worten und untermalender Gestik antwortete ich: „Jaaaa, gestern aaaabend, 15 Euroooo“. Er schien zufrieden und brauste wieder davon. Nach dem überwundenen Überraschungsmoment dieser abstrusen Situation meldete sich mein Erinnerungsvermögen: Ich hatte NICHT bezahlt! Ich wollte ☝🏻! Aber „Gru“ hatte kein Wechselgeld! „Plopp“ war das schlechte Gewissen online. Manche Menschen besitzen diese Funktion ja nicht, aber bei mir steigert sich das minütlich bis zur Extase! Ich wollte SOFORT in der Herberge anrufen, den Irrtum aufklären und die Möglichkeiten der Bezahlung klären! Da gab es allerdings eine kleine Sprachbarriere! „Gru“ und „Cafe?“ sprachen noch weniger englisch als spanisch. Ich brauchte somit einen „Translater“. Eine halbe Stunde später öffneten die Geschäfte und mir sprang die Leuchtschrift einer Bank entgegen. Hier arbeiteten sicher kluge Köpfe und ich würde eine geeignete Person finden. Die erste Bankangestellte versicherte auch sogleich, der englischen Sprache vertraut zu sein. Ich erklärte ausführlich und deutlich mein Problem und fragte, ob sie hier als telefonische Übersetzerin aushelfen würde. Sie hatte interessiert zugehört und fragte nun, ob ich denn Kundin ihrer Bank wäre. Ich zog beide Augenbrauen nach oben und antwortete wahrheitsgetreu: „Nein“. Woraufhin sie mir mitteilte, dass sie mir dann leider nicht helfen könne. Ich richtete mich zur vollen Größe auf und sagte ruhig: „I just ask you for a little help“, drehte mich um und verließ den Laden.

Gijon hatte unzählige Universitäten und Hochschulen, aber keine Sau sprach hier Englisch…

Nach gut 2 Stunden kam ich endlich über das Industriegebiet an den Rand der Stadt. Gijon lässt dich lange nicht hinein aber auch lange nicht hinaus! Ich fühlte mich gut. Die Schmerzen im Bein waren einem unangenehmen Druck gewichen. Ich kam gut voran und das Wetter war perfekt. Trotz meines guten Laufs nahm ich mir vor, bei der nächsten Sitzmöglichkeit Rast zu machen. Das Schicksal, an welches ich nicht glaube, erlaubte sich jedoch einen Spaß in Form einer nicht ganz intakten Bank, deren Sitzfläche auf einer Seite mangels Verschraubung abgesackt war. Ideal für eine kleine Rutschpartie zu der ich jedoch keinerlei Lust verspürte. Nur wenige Meter weiter fand sich eine Tischgruppe mit Ausblick auf die Industrie und ihren Auswurf und ich machte dort für 15 Minuten Rast.

Anschließend ging es auf Wiesen- und Waldwegen weiter, die positive Gedanken auslösten. Gedanken an meine wundervolle Tochter, an meine Familie und an Menschen und Freunde, die zu meiner Familie geworden sind. Gedanken an meine Wünsche und an Ideen, die Realität werden könnten. Es gab einen Gedanken, den ich nach meiner Reise sofort umsetzen wollte, einen weiteren, der vom Erfolg des ersten abhängig war und somit als „positiver“ Wunschgedanke meinen Weg weiter begleiten würde, und einen Gedanken, der als Wunsch noch nicht wirklich greifbar war. Da letzterer auch nicht nur von meiner Person abhing und sich eher zu einem „seelischen Märchen“ entwickelte, genoss ich diesen als solchen und grub ihn aus, wann immer mir danach war. Je mehr ich lief, umso bewusster wurde mir, wie gut ich vorankam und wie sehr ich diesen Tag heute genießen konnte.

Irgendwann verlief der Camino del Norte wieder an einer Straße entlang. Hier reihten sich Autowerkstätten und Logistikunternehmen aneinander. In einer Kurve gab es einige Gaststätten und Bars für die Fernfahrer und in einer dieser kehrte ich ein. Innen war es rustikal, im Stil eines Saloons aufgebaut. Tische aus Holz, die aussahen, als wären sie natürlich so gewachsen. Eine Holzbar mit einem großen Angebot an Spirituosen und ein Kleiderhaken aus Hufeisen. Ich bestellte ein „Thunfisch-Omelett-Sandwich“, da es das einzige Angebot ohne Fleisch war, und einen Kaffee. Das Sandwich war warm , schmeckte gut und gab Kraft. Als ich anschließend noch immer fast schmerzfrei weiterlief, übermannte mich ein überschäumendes Glücksgefühl. Hätte ich meine gute Stimmung vertanzen müssen, wäre es wohl eine Kombination aus ‚Gangnam Style’ und dem ‚Ketchup Song’ geworden (für die, die beides nicht kennen- ihr erspart euch damit auch die geistige Vorstellung 🤷🏻‍♀️). Da Tanzen keine Option war, fing ich an zu singen. Und da ich nur Disneylieder auswendig trällern kann, sag ich lautstark einen Song aus ‚Pocahontas’: „So renn mit mir durch‘s Schattenlicht der Wälder, genieß die süßen Beeren dieser Welt, komm wälze dich in ihrer reichen Vielfalt, und du merkst, dass im Leben dir nichts fehlt! Der Regen und der Fluss sind meine Brüder, der Reiher und der Otter mein Geleit, doch jeder dreht sich mit und ist verbunden, mit dem Sonnenrad, dem Ring der Ewigkeit…“ Ich verströmte so viel Lebensfreude, dass mir einige Auto- und LKW- Fahrer zuhupten und ihren hocherhobenen Daumen aus dem Fenster streckten (was sich ganz sicher NICHT auf meinen jaulenden Gesang bezog!😉).

Mein Weg führte mich weiter durch einige kleine Ortschaften und hier an einem alten Waschhaus vorbei, bei dessen momentanen Zustand der Gedanke an Wäsche waschende Frauen zwar eher schwerfiel, es mich dennoch in eine längst vergangene Zeit holte, in der Luxusgüter, wie Waschmaschinen und Trockner, das gesellige Gemeinschaftswaschen noch nicht abgelöst hatten. In San Pelayo kam ich an einer Kirche vorbei und verspürte das Bedürfnis hineinzugehen. Nicht, um wieder für mich zu bitten, sondern um zu danken. Doch auch hier stand ich vor verschlossenen Toren. Ich verharrte eine ganze Weile auf dieser Treppe vor dem Kirchenportal, bis mir der Gedanke kam: sollte es einen Gott oder irgendeine andere „höhere Macht“ geben, so würde diese auch außerhalb einer Kirche meine Dankbarkeit spüren.

Kurz vor Aviles, meinem heutigen Tagesziel, gab es dann doch noch ein leichtes Ziepen im Bein, welches mich nochmals zu einer kurzen Pause und der Einnahme einer Schmerztablette zwang. Doch ich schaffte es, nach einigen Irrwegen, die angepeilte Pension zu erreichen, und bekam dort ein nettes Zimmer mit eigenem Bad. Wenn auch nur über einen Gemeinschaftsflur erreichbar. Ich duschte und lief hinunter in das bunte Straßentreiben, um mir dort ein Abschlussbierchen zu gönnen. Leider verschwand auch dieses Mal, der gesamte Blogeintrag, den ich währendessen schrieb und ich holte dies nun am kommenden Morgen nach.