Weges- und andere Trennungen
28.07.21 Wir waren gestern beide so müde, dass wir schon um 21:00 Uhr im Bett lagen und ich schlief auch relativ zeitnah ein. Allerdings war die Nacht, trotz der zusätzlichen Herbergsdecke, unglaublich kalt und ich kruschtelte mitten in der Nacht in meinem Backpack nach den warmen Wandersocken. Nachdem auch diese nichts gegen mein Schnattern ausrichten konnten, klaute ich mir eine weitere Decke vom coronabedingt freien Nachbarbett. Wie oft, erwachte ich sehr früh und schlich mich leise ins Bad. Dort traf ich auf eine weitere Pilgerin, der Rest der 12 Übernachtungsgäste lag jedoch noch im tiefen Schlaf. Gestern abend hatte Adelina kurzfristig umgebucht, nachdem mir aufgefallen war, dass unsere letzte Etappe 31 km betragen hätte. Um aber am ‚Ende der Welt‘ mehr Zeit zu haben, würden wir nun heute die über 30 km absolvieren und hätten somit am letzten Tag nur noch ca. 15 km vor uns. Das bedeutete jedoch auch, dass für den heutigen Weg die Beine wieder fest eingebunden werden mussten, was ich außerhalb des Schlafsaales dann auch tat. Um 7:00 Uhr saß ich am Frühstückstisch und aß Marmeladentoast. Inzwischen hatte ich mich an das ausschließlich süße Frühstück der Spanier gewöhnt. Adelina ging es die letzten Tage nicht gut. Sie hatte Magenschmerzen und aufgrund dessen gestern einen Schnaps zu sich genommen. Ich wollte sie ausschlafen lassen und hoffte, dass es ihr später besser gehen würde. Ich kaufte in der Herberge noch 2 Bananen und 1 Muffin für unterwegs, da ich befürchtete, auf dem Weg keine Einkaufsmöglichkeit zu finden. Als ich in den Schlafraum zurücklief, war Adelina auch auf den Beinen und wir tranken noch einen Kaffee zusammen. Um 8:00 Uhr verließen wir die Herberge für eine Etappe von ca. 32-34 km. Der Wind blies uns, wie meist um diese Uhrzeit, leicht und frisch ins Gesicht. Adelinas Magenschmerzen hatten nicht nachgelassen, aber ihre Stimmung glücklicherweise auch nicht, und so liefen wir im gut gelaunten 4/4 Takt die Straße entlang.

Der Weg führte uns nach einer Weile in die Felder und dort einen sehr steilen Hang hinauf. Trotz des bewölkten Himmels war es inzwischen schon recht warm, und so waren nicht nur wir am keuchen, sondern auch alle weiteren Pilger, die in diesem Moment den Hang bezwangen. Aus Finisterre und Muxia kamen uns nun auch einige wenige Pilger entgegen, die von dort Richtung Santiago unterwegs waren. Am oberen Punkt des Berges angelangt, trafen wir auf eine Aussichtsplattform, die uns ins noch leicht nebelige Tal blicken ließ. Auf unserer Camino-App hatten wir hier den offiziellen Weg wohl verlassen, obwohl uns die Wegweiser hinaufgeführt hatten. In Anbetracht unserer bevorliegenden Strecke mag dieser kleine Umweg nun etwas ärgerlich erscheinen, aber die Aussicht war es allemal wert.

Auch auf unserer heutigen zweiten Etappe nach Finisterre waren nur wenige Pilger unterwegs, was mich sehr beruhigte und die Strecke nur noch schöner machte. Die Natur in Kombination mit dem wechselnden Schauspiels der vorbeiziehenden Wolken war fantastisch. Die oft wohl künstlich angelegten Wälder, in denen die Bäume wieder wie Soldaten in Reih und Glied standen, spendeten auf einigen Wegen den erholsamen Schatten. Wir verstrickten uns in Gespräche über die Menschen in unserer Heimat und so passierte, was passieren musste: ‚we are not on the camino‘ 🤷🏻♀️. Als wir dies bemerkten, waren wir nun allerdings schon eine ganze Weile auf einer stark befahrenen und für uns ungesicherten Straße entlanggelaufen. Laut Karte konnten wir dieser weiter folgen und würden dann wieder auf den regulären Weg treffen. Wir entschieden uns, dies zu tun, da ein Umkehren deutlich mehr Weg und Zeit in Anspruch genommen hätte. Allerdings hätte ich auf diesen Alternativweg gerne verzichtet, da die Straße sich, aufgrund eines fehlenden Randstreifens, wirklich als etwas gefährlich erwies.


Wir hatten zuvor jede dritte Bar auf dem Weg für eine Pause genutzt, da wir Zeit genug hatten und die 32 km möglichst entspannt bewältigen wollten. Adelina konnte, aufgrund ihres rebellierenden Magens, nichts zu sich nehmen und so aß ich halt für uns zwei. Zum Frühstück hatte ich ja schon Toast mit Marmelade, in der ersten Bar gönnte ich mir zusätzlich ein Eis und in der zweiten holte ich mir Nüsse. In der kommenden, die dann hoffentlich folgen würde, wollte ich ein kleines Mittagessen einnehmen. Ich verspürte seit einigen Tagen diesen Dauerhunger, der am Anfang meiner Reise zeitweise gar nicht vorhanden war. Wir waren ca. 18 km gelaufen, als sich die nächste Möglichkeit meinen Hunger zu stillen, näherte. In dieser saß ein belgischer Pilger, der uns schon einige Male auf dem Weg angesprochen hatte. Ich denke, Adelina war ihm nicht besonders zugetan, denn sie wechselte, trotz meines sehnsüchtigen Blickes, die Straßenseite, um dann in den gekennzeichneten Camino einzubiegen. Sie rief mir zu, es sei noch zu früh zum Mittagessen und irgendwie hatte sie um 12:30 Uhr damit ja wohl auch Recht. Unser Belgier winkte uns mit einer kleinen Karte entgegen und sagte, er trüge ‚den Teufel‘ in seiner Hand. Es war die Visitenkarte eines Taxiunternehmens 😉 und damit ein absolutes Pilger- Tabu! Ca. 10 km vor unserem Ziel Cee trennte eine asphaltierte Straße den Camino. Links kamen wir nach Finisterre (offizielle Bezeichnung: Fisterra. Das Kap Finisterra ist der Endpunkt des Camino Fisterra)und rechts konnte man über Muxia laufen. Die Geschichte besagte wohl, dass die Seele des Pilgers in Finisterre (am Ende der Welt) stirbt, in Muxia wiedergeboren wird und dann ‚gereinigt und geheilt’ zurück nach Santiago getragen wird. Zumindest habe ich dies so verstanden. Warum man dann allerdings zuerst über Muxia nach Finisterre und dann zurück nach Santiago läuft, bleibt mir ein Rätsel.


Die meiste Zeit verlief diese Etappe auf wunderschönen Feldwegen, mit meist berauschender Aussicht, entlang. Wir hatten weiterhin ein gutes Tempo drauf, doch ich spürte, dass ich es gerne drosseln wollte, um den vorletzten Tag ein wenig mehr genießen zu können. Ich teilte dies Adelina mit, die lieber im gewohnten Rythmus weiterwollte, und so trennten sich unsere Wege am Ende dieser Etappe. Wir würden uns in der Herberge wiedersehen. Ich setzte mich erst einmal auf einen Stein und genoss sowohl Aussicht, als auch die Nüsse und eine Banane, da eine weitere Bar und somit das erhoffte Mittagessen ausgeblieben war. An diesem Platz verabschiedete ich mich von einem Teil meines Lebens vor dem Camino: Die Suche nach Anerkennung und vielleicht Liebe, die ich auf einem völlig falschen Weg zu finden erhoffte. Ich schrieb mit einem Bekannten einige Zeilen und er meinte plötzlich: „Was ist passiert? Hört sich an, als hättest Du auf dem Jakobsweg deine große Liebe gefunden?“ Ich setzte einen lachenden Smiley vor meine Antwort und schrieb zurück: „Damit liegst du gar nicht so falsch.“


Der letzte Teil des Weges war steinig und sehr steil. In der Zeit meiner schmerzenden Beine hätte ich für diesen langen Abstieg Stunden benötigt, aber inzwischen lief ich ihn problemlos hinab und konnte die Aussicht auf das Meer uneingeschränkt genießen. Ich passierte einige Pilger, die sich quälten und konnte ihre Schmerzen gut nachempfinden. Ich war ca. um 16:00 an der Herberge und traf im Eingangsbereich gleich auf Adelina. Wir duschten und liefen dann gemeinsam zum Supermarkt, um uns mit Essen zu versorgen. Sie holte sich einen Salat und ich kaufte ein großes Körnerbrötchen, Surimi und Guacamole, sowie Kekse, Gummibärchen und etwas für das morgige Frühstück. Außerdem gönnte ich mir einen billigen Rotwein, von dem ich am Abend dann allerdings nicht wirklich viel trank, da er gewöhnungsbedürftig schrecklich schmeckte. Nach unserem Einkauf liefen wir zum Strand, legten uns auf unsere Handtücher und versuchten, unseren Hunger zu stillen. Da der Wind unerbittlich blies, blieb unser Essen allerdings nicht ,unpaniert‘ und so knirschte der Sand alsbald zwischen unseren Zähnen. Wir ließen uns die Laune und den Apetitt dadurch aber nicht nehmen, legten uns zum Schutz letztlich hinter eine kleine Steinmauer und genossen die warme Sonne und den frischen Wind auf unserer Haut. Um 20:30 Uhr liefen wir zurück in die Herberge, duschten ein weiteres Mal, um den Sand aus Haaren, Ohren, Nase und weiteren Körperstellen zu bekommen, auf welche ich hier nun nicht eingehen möchte. Dann registrierte ich mich noch für meinen Flug, was aufgrund von Covid vorgeschrieben war, und wir setzten uns noch kurz zusammen auf die Terrasse. Ich sagte zu Adelina, dass ich das Gefühl hätte, hier ein völlig anderer Mensch zu sein und mich momentan an die Danni in Deutschland kaum erinnern könnte. Sie meinte, wir wären hier andere Menschen und dies sei auch gut so.
Ich hatte angefangen mich zu verabschieden, und es fiel tatsächlich leichter, als ich gedacht hatte. Denn auf dieser letzten Etappe wurde mir eines klar: Nur weil mein Weg hier bald endete, würde er ja nicht verschwinden. Ich hatte jederzeit die Möglichkeit wiederzukommen. Oder einen anderen Weg zu gehen. Immer, überall!


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