Weges- und Lebensgabelungen
19.07.21 Wir waren ca. 20 Pilger in diesem Raum und einige davon hatten ein Problem mit ihrer erschöpften Rachenmuskulatur, was wiederrum bei mir zu Trommelfellschwingungen und akuter Schlafarmut führte. Ich brauchte dringend Ohrenstöpsel, wenn ich bis zum Ende meines Weges nicht an Schlafunterversorgung verblöden wollte. Irgendwann musste ich dann doch etwas eingenickt sein, denn ich erwachte um 5:39 Uhr. Da ich wusste, das ein weiterer Einschlafversuchvergebnislos bleiben und es heute zudem heiß werden würde, stand ich auf und machte mich leise laufbereit. Um 6:30 Uhr saß ich im dunklen Außenbereich an der wirklich noch sehr feuchten Luft, trank kalten Milchkaffee aus dem Supermarkt und aß dazu einen Muffin. 6:45 Uhr lief ich los. In Baalmonde teilte sich der Weg zum ersten Mal. Links führte er durch Wald und Felder und rechts, etwas kürzer, entlang der Straße. Aufgrund der Dunkelheit und des Nebels entschied ich mich heute für die Straße. Beide Wege würden nach wenigen Kilometern wieder ineinander überlaufen. Auf der gesamten ersten Strecke passierten mich zwei Fahrzeuge. Nicht ein Mensch war auf der Straße zu sehen, geschweige denn Pilgrims. Es war recht kühl und ich sog die frische Morgenluft tief ein. Außer einiger Naturgeräusche und des rhythmische Klackern meines Stabes, war nichts zu hören.


Ich verließ die Straße und kam über eine Brücke. Was mich dort erwartete, war einer der schönsten Orte, die ich direkt auf dem Camino erleben durfte. Eingetaucht im noch leichten feuchten Nebel fand ich mich auf einem Platz vor einer alten Kirche wieder. Die Steinmauern waren zum Teil mit kräftig grünem Moos überzogen und alles lag eingebettet in einem lichten Wald. Es war so überwältigend, dass ich mich für Minuten nicht rühren konnte. Ich bildete mir ein, dass ein Teil der durchlaufenen Pilgerseelen, an diesem Ort hängengeblieben wären. Vielleicht hatten sie hier schon Buße getan, um etwas gereinigter nach Santiago de Compostela zu kommen.


So verrückt das klingen mag, ich fühlte mich an diesem Ort angekommen und wäre dies mein Zielort gewesen, ich hätte noch Stunden hier verweilen können. Aber ich wollte möglichst wenig von der heißen Mittagssonne abbekommen und hatte den meisten Teil der Strecke noch vor mir. So lief ich im leicht gedrosseltem Tempo weiter, da mein Bein sich heute Morgen wieder bemerkbar gemacht hatte. Nach 2-2,5 Stunden meldet mein Körper meist Energiemangel und fordert eine Rast. Und meist ist dann kein geeigneter Platz zu finden. Zumindest dann nicht, wenn man gewisse Ansprüche daran knüpft. Und ich spreche nicht von Bänken, Tischen und Abfallbehältern, sondern von einer schönen Atmosphäre. Mir blieb, auf einem der Wege wieder einen Stein zu finden, auf den ich mich setzen konnte um die feuchte Erde zu meiden. Ich ruhte gute 20 Minuten, entspannte mein Bein und aß eine Kleinigkeit aus meinem Rucksack. Nur 50 m weiter wäre ein Rastplatz gewesen, ich stellte jedoch fest, dass ich dennoch mit meinem Stein die bessere Auswahl getroffen hatte.
Ich genoss diese frühe und einsame Caminozeit. Ich begegnete bis 11:30 Uhr nur einem einzigen Pilger, der allerdings von Santiago aus gestartet war, und in die, für mich gefühlt verkehrte Richtung lief.

Die Vegetation auf dieser Strecke war abwechslungsreich und oft märchenhaft schön. Ich glaube, dass es nur alleine möglich ist, dieses wirklich zu genießen. Ich riss von einem der Eukalyptusbäume ein Blatt ab und zerrieb es zwischen meinen Fingern. Den Duft atmete ich tief ein und schloss dabei meine Augen. Mehr brauchte ich in diesem Moment nicht um glücklich zu sein. In den Spinnenweben hatte sich der feuchte Nebel gefangen und sie damit sichtbar gemacht. Ich bin immer wieder erstaunt über diese filigranen Kunstwerke, die vielen Insekten den Tod bringen und dabei den indianischen Traumfängern zur Vorlage dienten.


In A Fonte trifft man auf die nächste Gabelung. Hier entscheidet sich, ob man ca. 35 km durchlaufen möchte, oder ob man die 10 km längere Variante wählt, die allerdings aufgrund von Schlafmöglichkeiten gesplittet werden kann. Ich hatte mich schon zuvor für die längere Variante entschieden und wollte versuchen in der Herberge ‚A Cabana’ einen Platz zu bekommen. Ursprünglich wollte ich meine letzten Etappen bis Santiago planen und Unterkünfte buchen. Aber ich bevorzugte das Gefühl der Freiheit und ging damit lieber das Risiko ein, notfalls auf der Straße schlafen zu müssen. Ich denke, dass muss jeder Pilger für sich entscheiden. Manche laufen besser mit einem sicheren Ziel. Ich laufe inzwischen freier und entspannter, wenn ich nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein muss.


Ich kämpfte. Mit Gedanken, die ich nicht denken sollte. Nicht heute. Die Wege waren zu schön, um sie zu zerreißen. Doch der Druck in meiner Brust wurde mit jedem Schritt stärker und raubte unglaubliche Energie.
Als Schülerin war ich in Sprachen eine absolute Null. Ich bevorzugte die Mathematik und zeitweise , je nach Sympathie zum Lehrer, auch Physik und Chemie. Auch Fächer wie Sport, Musik und Kunst fielen in meinen Begabungsbereich. Doch was mein Leben wirklich prägte, war wohl die Ähnlichkeit zu meiner Großmutter. Eine stolze und elegante Frau, deren Fußstapfen jedoch viel zu groß für mich waren. Ich ging dennoch den mir aufgezeigten Weg, da ich ihn nicht anzweifelte. Und so wandelte ich als schlechte Kopie meiner Großmutter durch eine auch völlig andere Zeit, mit anderen Ansprüchen und Voraussetzungen. Ich hätte zu gerne gewusst, was für ein Ziel die Daniela in mir gehabt hätte, wenn sie an einer Lebensgabelung den Weg selbst gewählt hätte. Vielleicht wäre ich irgendwo in der Entwicklung gelandet oder hätte meine Emotionen als Schauspielerin auf der Bühne ausgedrückt. Oder ich würde Bücher schreiben. Aber so ergriff ich am Ende den Beruf meiner Großmutter und wurde selbstständige Tanzlehrerin, allerdings nicht mit dem gleichen Erfolg. Über Jahre hinweg kämpfte ich nun, da ich meinen eigenen Ansprüchen nie genügte, mit dem Erreichen eines Zieles, dass ich vielleicht gar nicht erreichen wollte. Ich bereue und verurteile nichts. Mein Leben in der Tanzschule war immer abwechslungsreich und kreativ. Aber ich habe nie herausgefunden, ob es auch wirklich meine Bestimmung war, oder nur ein genetisch vorgegebenes Projekt. Der heutige Tag hatte mir neue und verschiedene Wege gezeigt. Es gab soviele Richtungen in die man gehen konnte, ich musste es manchmal eben nur tun. Denn beruflich hatte ich mich auf dem Weg verloren und privat war ich noch nie wirklich angekommen.

Die Sonne brach um 11:50 Uhr durch und schlagartig befand man sich in einem Backofen mit eingestellter Ober- und Unterhitze, denn der Aspahlt, auf dem ich mich inzwischen befand, heizte sich innerhalb weniger Minuten auf. Ich hatte nur noch ca. 2 Stunden vor mir, sollte ich am Zielort einen Schlafplatz bekommen. Plötzlich hielt ein Radfahrer neben mir und fragte, ob ich zur Herberge A Cabana wollte. Ich bejahte dies und er stellte sich als der Herbergsvater vor, der nun vorfahren und alles vorbereiten wollte. Es gäbe vor Ort nichts zu essen und auch sonst nur Wasser. Falls ich noch etwas benötigte, müsste ich bei einem Nachbarn klopfen. Dieser könne mir dann aus seinem privaten Bestand etwas verkaufen. Ich war im Grunde versorgt, hätte mich aber über ein kühles Bier am Abend gefreut. Als ich später in der Herberge eintraf, war außer mir noch eine 31 jährige und energiegeladene Spanierin anwesend. Wir beschlossen dann gemeinsam beim Nachbarn zu klopfen, da Judith überhaupt keine Vorräte dabei hatte und drohte, bei fehlender Nahrungsaufnahme binnen Sekunden einzugehen. So kam ich doch noch zu meinem Bier und nahm für Adelina auch gleich eins mit. Diese trudelte auch wenig später ein und liebte mich für das erfrischende Getränk, welches sie noch vor der Dusche hinuterkippte. Ich wusste wohl, warum ich immer so früh startete 😉.

Die Herberge durfte aufgrund der Pandemie nur 6 Betten zur Verfügung stellen, welche mit dem deutschen Marcel, dem kolumbianischen Andre, sowie einem älteren Pärchen und uns dann schon überbelegt war. Da es außer zwei bis drei weiteren Wohnhäusern wirklich nichts gab, lagen wir zuerst entspannt im angrenzenden Garten und saßen dann am Abend noch ein wenig zusammen. Morgen stand nur eine kurze Etappe bevor und auch hier hatte ich wieder keine Unterkunft vorgebucht. Mal sehen, wo wir landen würden. Denn Adelina hatte gefragt, ob wir gemeinsam gehen wollten und nach den letzten Tagen alleine auf dem Camino, tat mir Gesellschaft vielleicht mal wieder ganz gut.

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