Die Tiere der Herberge haben die letzte Nacht unbeschadet überlebt. Um 23:20 Uhr kam der heißersehnte Lieferservice des Restaurants und brachte uns hungrigen und inzwischen sehr müden Pilgern das überlebenswichtige Abendessen. Ich schlang mein vegetarisches Sandwich herunter, hielt noch ein wenig Smalltalk in angedeuteter ‚Gehörlosensprache‘ mit einem nur schlecht englisch sprechenden Spanier und wuppte mich, das erste Mal ohne meine Zähne zu putzen, in das harte Stockbett. Das Schnarchkonzert in dem Massenschlaflager hatte zumindest nur den mittleren Härtegrad. Anscheinend gewöhnte ich mich gegen Ende meiner Reise langsam daran, denn ich hatte tatsächlich geschlafen. Um kurz vor fünf fing der erste Pilger in der spanischen temperamentvollen Art an, seine Sachen zusammenzupacken. Ich zwang mich dennoch liegenzubleiben und eine Art Entspannungsmodus einzunehmen. Das gelang bis kurz vor 6:00 Uhr, dann stand ich auf, packte meine Sachen und lief nach draußen ins ‚Sanitärhaus‘. Ich startete im stockfinsteren um 6:30 Uhr und benötigte die Handytaschenlampe, um die Straße durch den Wald unbeschadet nach unten zu gelangen. Im Ort lief ich direkt auf ein offenes Cafe zu, bestellte dort ein kleines Frühstück und trank zwei große ‚cafe con leche‘. Keine fünf Minuten später stand Adelina neben mir. Wir hatten am Vorabend beschlossen, nichts fest zu vereinbaren und uns gegebenenfalls erst in der Herberge zu treffen. Nun wurde es eben wieder eine gemeinsame Etappe und ich wusste, dass ich diese mit ihr bedenkenlos genießen konnte.

Wir liefen stramm los, da dies inzwischen unser Laufrythmus war. Eigentlich machte das wenig Sinn, da wir nun früh auf dem Camino waren und nur knapp 22 km zu bewältigen hatten. Aber es ist, wie es ist. Wenn du deinen Takt mal drin hast, läuft es mehr oder weniger von alleine. Auch heute war die Strecke es wieder wert, nach Finisterre verlängert zu haben. Das Wetter war zudem pilgerfreundlich, da bewölkt, nur wenig Nieselregen und ab und zu blitzte freundlich die Sonne durch.

Wir trafen einige neue Pilger und wechselten auch wenige Worte. Wer sich bis Santiago gefunden hatte, war fest verbunden und neue Kontakte fielen deutlich schwerer. Wobei ich hier das Gefühl hatte, dass es eher Adelina war, die sich damit schwertat.

Wir liefen meist still genießend nebeneinander her. Inzwischen hatten wir wohl das vertraute Verhältnis eines langjährigen Ehepaares aufgebaut, denn Worte waren oft nicht mehr nötig. Manchmal reichte ein kurzer Blick, ein Grinsen oder noch weniger, um zu wissen, was der andere gerade fühlte. Und im Moment waren wir einfach nur glücklich. Adelina fragte mich, ob ich beim Schweigen innerlich mit mir selbst spreche und ich antwortete: „Natürlich, wer tut das nicht“. Die Erkenntnis, damit nicht alleine und somit nicht völlig verrückt zu sein, schien sie zu beruhigen. Ich schaute über die Maisfelder, die sich, wie mit einem breiten Lockenkamm gekämmt, über die Felder zogen und zu unserem Leidwesen oft noch keinen Mais trugen, da wir diesen allzu gerne naschen wollten. Unsere Füße knarzten über den groben Kiesboden und mein Stock gab, jeden vierten Schritt betonend, den Takt an.

Ich fing an zu analysieren, weshalb mich diese Momente in einen Zustand innerer Zufriedenheit brachten. Ich spürte meine brennenden Füße, noch immer einen leichten Schmerz in den Kniegelenken und auch der Rücken und die Hüften waren von der langen Pilgerreise nicht verschont geblieben. Zeitweise ging der Weg steil bergauf und man hatte mit dem Atem zu kämpfen, dann ging es wieder bergab und die Beine machten sich bemerkbar. Man schwitzte und der Eigengeruch der Schuhe und Achselhöhlen blieb zumindest der eigenen Nase nicht verborgen. An manchen Tagen war ungewiss, wann und wo er enden würde, und manchmal waren Hunger und Müdigkeit stärker, als die schmerzenden Gelenke. Und dennoch gab es Momente, da hätte ich dieses Leben, wenn möglich, sofort gegen mein altes eingetauscht. Weil im Inneren endlich Ruhe einkehren konnte. Es trieb mich nichts oder setzte mich unter Druck. Ich musste keine Emotionen an-oder abschalten, die ich nicht verspürte. Ich umgab mich nur mit Menschen, die mir guttaten und denen ich wirklich am Herzen lag. Mein Vater und seine Frau Ingrid hatten mir während meiner Reise geschrieben: „Komm gesund zurück an Leib und Seele“. Ich glaube, dass ich hier auf dem Camino das erste Mal erleben durfte, wie es sich anfühlte ‚seelisch gesund‘ zu sein. Denn aus meiner Sicht fordert die Seele, wie auch der Körper, seine Zeiten. Zeiten des Glücks und Zeiten der Trauer. Zeiten, um zu träumen und Zeiten der Erkenntnis. Zeiten, um zu hassen und Zeiten, um zu lieben.

Ich glaube nicht, dass ‚der Jakobsweg‘, in welcher Form auch immer, die Lösung aller Sorgen und die Heilquelle aller Menschenseelen ist. Es spielt keine Rolle, welchen Weg wir gehen und wo wir enden. Denn um Glück zu empfinden, und dessen bin ich mir inzwischen sicher, braucht es nicht viel, sondern viel weniger.

Adelina und ich kamen um 13:30 Uhr in unserer Herberge in Sta Marina an. Diese lag direkt an einer Schnellstraße, war aber sauber und die Herbergsmutter war sympathisch. Es war ein typischer Schlafraum mit mehreren Stockbetten. Einige junge Mädels und auch wenige Männer würden die heutige Nacht mit uns teilen. Was an diesem Ort wirklich Nerven raubte, waren die Unmengen an Fliegen, die sich in Scharen auf jeden textilfreien Platz deines Körpers niederließen. Ich dachte einige Male kurz darüber nach, meine Regel zu brechen und Leben zu nehmen. Noch war ich hier schuldenfrei, aber meine Zurückhaltung schwand. Wir werden sicher heute abend noch ein Bierchen trinken und entweder mich interessieren dann diese kitzelden und manchmal ‚beißenden’ Flugobjekte nicht mehr, oder ich werde zum ‚Killer’.

Es sind nur noch drei Tage. Ich muss anfangen Abschied zu nehmen.