Am Ende noch nicht angekommen

13.06.2022 Letzter Tag in Santiago.
Wir verließen unsere Herberge und gönnten uns natürlich erst einmal ein Frühstück. Ich weiß nicht, wie es Nicole erging, aber mir war bewusst, dass es unser letztes war. Es tat nun doch ein wenig weh. Dass man sich so unfassbar schnell und tief mit einem Menschen auf dem Camino verbindet, spürt man erst wirklich beim Abschied. Es ist fast, als wenn du wieder eine kleine, neu gewonnene Familie verlässt.
Wir parkten anschließend unsere Backpacks für 3€ bei der Post und schlenderten durch die Shopping-Straßen und Souvenir-Gassen von Santiago. Auf dem Platz vor der Kathedrale entdeckte man unter den Ankommenden immer wieder bekannte Gesichter und gratulierte den erschöpften aber auch glücklichen Pilgern. Am heutigen Montag war der Platz angenehm leer. So hätte sich Nicole ihr Einlaufen eher gewünscht.
Auf der steinigen Seitenbank saß unsere deutsche Anja und winkte uns fröhlich, wenn auch etwas mitgenommen entgegen. Ein älterer, französischer Pilgergenosse bemühte sich um ihr schmerzendes Knie. Auch einer meiner Helden, da er auf dem Weg dem ein oder anderen Pilger mit seinen Kenntnissen geholfen hatte. Wir plauschten noch etwas mit Anja und ich spürte, dass sich in ihr etwas gewandelt hatte. Was genau, kann ich nicht sagen, aber ihre Augen und ihre Art zu sprechen zeigten eine Veränderung. War es Demut? Sie war möglicherweise an ihre Grenzen gekommen. Hatte sie ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen gespürt? Wie ich im letzten Jahr? Vielleicht war ihr dieser Weg ebenso wichtig gewesen, wie mir der Camino del Norte. Mit Ehrgeiz begonnen, vom Camino zum Entschleunigen und von der eigenen Seele zum Durchhalten gezwungen. Am Ende bleibt übrig, was du wirklich bist. Ich fing an, sie zu mögen.
In einer der Gassen stießen wir auf Karl und Liza, welche sich die armen und oft noch lebenden Meerestiere im Schaufenster betrachteten. Karl meinte, wenn er auch nur ein Tier töten müsste, würde aus ihm sicher ein Vegetarier. Aber seinem geliebtem Pulpo konnte er eben nur schwer wiederstehen. Wir verabredeten uns in einem, von Karl empfohlenen, guten Fischlokal zum Mittagessen und hofften, hier auch für die ,Carnetarierin‘ 😉 Nicole etwas zu finden.

Es war schön mit den Mädels und unserem Hahn Karl. Das Essen war gut, speziell der Pulpo, den mich Liza kosten ließ, war zart und mega lecker. Nicole hatte leider etwas Pech mit ihrem Fleisch, welches ihr dann doch fast roh und sehr blutig den Appetit nahm und auch ein Nachbrutzeln konnte daran nichts mehr ändern.
Nun kam das erste große Verabschieden, denn Liza würde uns heute verlassen. Diese unfassbar süße, lustige und bildhübsche junge Frau hatte alle Herzen im Sturm erobert. Sie würde evtl. mit Karl zusammen bald einen neuen Camino laufen, zumindest war das ihr gemeinsamer Plan.
Bye süße Ungarin, es war sehr schön, dich noch kennenlernen zu dürfen.
Nicole und ich bummelten noch eine Weile durch die Stadt, doch die Zeit verflog. So liefen wir zur Post, holten unsere treuen Begleiter aus dem Kindergarten ab und liefen Richtung Busbahnhof.
Am Ende eines Caminos muss ja immer noch etwas rumzicken. So hatte sich diesmal mein linker Fuß dazu entschlossen, ab der ‚Ringzehe‘ nach außen ein wenig anzuschwillen, um dann weniger gut in meine Wanderschuhe zu passen. Außer den Flip Flops hatte ich keine weiteren dabei und da es gegen Abend oft kühl wurde, musste mein linker Fuß nun mit engeren Verhältnissen zurechtkommen. Gejaule kann ich nun am Ende auch nicht mehr gebrauchen.
Wir zogen den Abschied ein wenig hinaus und tranken noch eine schnelle Tasse cafe con leche in einer vorbeikommenden Bar. Doch auch diese änderte nichts am nahenden Ende. Scheiße!
Am Busbahnhof saß auch schon Anja, die ebenfalls über Porto nach Hause flog. Nicole war, wie oft, im Sicherheitsmodus und checkte über Handy und das Befragen der anderen Busreisenden, ob sie auch wirklich, definitiv sicher und unantastbar an der richtigen Haltestelle stand. Ich würde es vermissen.

Mein Camino endete emotional mit Nicoles Einstieg in den Bus. In diesem Jahr war sie mein Camino gewesen. Ihre positive, unkomplizierte und auf Planungssicherheit bedachte Art. Sie hatte ihre Komfortzone verlassen um mit mir über den Camino zu jagen. Hatte größere Strecken und vielleicht auch oft ein schnelleres Tempo auf sich genommen. Sie hat mich und sicher auch sich selbst überrascht und mir sehr gutgetan.
Danke liebe Nicole, auch dass du mein Schnarchen ertragen hast und mir nicht böse warst, als die ‚Pilger-Flucht‘ mich packte. Es war schön mit dir bei ‚My Way‘ zu weinen und ich hätte an dieser Stelle niemand anderen bei mir haben wollen. Und wenn ich dich eines Tages besuche, dann komme ich deinetwegen 😉 (das bleibt an dieser Stelle ein Insider).
Am Abend traf ich mich nochmal mit der Gruppe zum Tapas essen. Eine Tradion von Karl, der hierzu am Ende eines Caminos einlud mit den Worten: „Irgendwo muss meine Rente ja hin.“ Ich würde diesen tollen Mann niemals vergessen und hoffte, ihm auf einer späteren Reise irgendwann wieder zu begegnen. Karl, einer meiner Camino-Helden, mit seiner motivierenden und lebensbejahenden Art.
Es sollte ein wunderbarer Abend werden, der mir einen Teil dieser Pilgerseelen offenbaren sollte. Oft traurige aber auch hoffnungsvolle Gedanken und Erinnerungen sowie schmerzliche aber auch dankbare Gefühle.

Ich fuhr einen Tag später nach Porto und besah mir die wunderschöne Stadt. Am Morgen darauf würde es zurück nach Deutschland gehen.

Dieser Camino hat viel mehr Geschichten als die, die ihr hier zu lesen bekommt. Es gab Pilger, welche die Liebe unter dem Arbeits-Alltag aus den Augen verloren und auf dem Camino wieder entdeckt hatten. Menschen, die glaubten ihre große Liebe gefunden zu habe und hier wieder verloren. Eine Pilgerin war noch auf der Suche, nach etwas, was sie lieben konnte und ein anderer hatte die Liebe seines Lebens längst gefunden: den Camino, mit all seinen Menschen und Geschichten.
Für mich war es ein weiterer Weg, der mir meine Hoffnungen und Wünsche bestätigte. Was mir jedoch auch in diesem Jahr verwehrt blieb, war das erlösende und berauschende Gefühl, von dem viele Pilger berichten, beim Einzug in Santiago. Mir bedeutet diese Stadt und der große Platz vor der Kathedrale nichts. Er zeigte mir nur ein weiteres Mal das Ende einer Reise, die nicht enden sollte. Aber ich komme wieder und vielleicht löst es auch in mir irgendwann dies eine erlösende Gefühl aus: Angekommen.
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