Lost Germany vor Spaniens Geschichtsunterricht

11.06.2022
Trotz langer Tage fällt das Einschlafen wieder schwer. Das Notlicht im Schlafsaal war fürchterlich hell und ich lauschte den unterschiedlichsten Schnarchmelodien. Um 03:00 Uhr musste meine letzte ‘Einschlaf-Tablette‘ dran glauben und um 06:30 Uhr klingelte mein Wecker.
Im Frühstücksraum herrschte schon ein eifriges Treiben und ich probierte mich erfolgreich an der merkwürdigen Kaffeemaschine. Dem Toaster verpasste ich kurzerhand einen Spüllappen als Stopper für den Schieber, der partout nicht einrasten wollte. Dafür erntete ich aber spontan Anerkennung, womit mein Tag schon einmal gut begann.
Ich startete um 07:45 Uhr alleine, da Nicole mir mitgeteilt hatte, sie wolle heute keine 30 km laufen und mein angepeiltes Ziel lag in ca. 31 km Entfernung. Ich lief, angetrieben von Fräulein Ehrgeiz, zügig voran und erfreulicherweise machte Maximus super mit. Mimikus (mein rechtes Knie ;-)) hatte sich den ganzen Camino über nicht gemeldet, was ich den wenigen Höhenmetern zu verdanken hatte. Grundsätzlich ist dieser Weg, aus meiner laienhaften Sicht, für Einsteiger super geeignet.
Trotz meines zügigen Marsches holte mich meine liebe Nicole ein, als ich die Sohle aus meinem linken Schuh entfernte, da der Fuß einen Druckschmerz aufwies. Ich war freudig überrascht und merkte, dass ich ihr dieses Tempo tatsächlich nicht zugetraut hatte, wofür ich mich nun ein wenig schämte. Zur Wiedergutmachung lud ich sie in der nächsten Bar zu einem Kaffee ein.


Der Weg war wunderschön, trotz dass er zeitweilig von Asphaltstraßen unterbrochen war. Als wir nach unserer kleinen Stärkung wieder aufbrachen, entschieden wir auf einer eben solchen bis zur Einfädelung in den Camino weiterzugehen, da wir ansonsten ein Stück hätten zurücklaufen müssen. An Kilometern büßte dies nichts ein und dennoch trafen wir nach einigen Metern auf eine Einheimische, die uns wohl im fließenden Spanisch erklären wollte, dass sie unser Vorhaben nicht guthieß. Zumindest interpretierten wir ihre aufgeregten Worte so, denn wir beide standen rat- und verständnislos blickend vor ihr. Viel länger als nötig, da sich unsere Spanischkenntnisse dadurch ja nicht verbesserten. Irgendwann sagte Nicole nickend „Okay“ und wir ließen die verdutzte Frau einfach stehen.
Als wir den Camino wieder betraten, stießen wir auf die deutsche, 50-jährige Anja, die wir am gestrigen Abend in unserer Herberge kennengelernt hatten. Anja ist eine sehr durchtrainierte, attraktive Frau, die sich beim hiesigen Camino bei ihrer ersten Etappe mit über 40 km total überfordert hatte. Nun plagten sie mehrere Blasen an den Füßen und sie kam nur langsam voran. Um ehrlich zu sein, wurde ich trotz ihrer freundlichen Art, nicht wirklich warm mit ihr. Denn trotz ihrer Optik und einem offensichtlich gut ausgeprägten Selbstbewusstsein, schien sie stets die Bestätigung anderer zu suchen. Ja, sie war möglicherweise mein Spiegel und ich sah mich nicht mehr so gerne darin. Ich konnte jedoch nachempfinden, wie es ihr mit ihrem Ehrgeiz und der gepaarten Laufhemmung gehen musste und so wünschte ich ihr von Herzen, sie würde gut in Santiago ankommen und könne ihren Weg auch noch ein wenig genießen.
Nicole wollte sich noch einen Stempel im Tourismusbüro holen, welches sich wohl in der Nähe befand. Ich lief, gedankenversunken vor ihr her und bemerkte erst viel zu spät, dass sie wohl an einer Ecke abgebogen sein musste, um ihren Stempel zu holen. Ich kehrte nicht um, da ich ja sowieso ein anderes Tages-Ziel hatte. Schön ist, dass man unter Pilgern weiß, dass man immer seinen eigenen Weg gehen kann, ohne Groll zu erzeugen. Anders als im gewohnten Alltag. Ich hoffte innerlich dennoch, sie spätestens in Santiago wiederzutreffen. Denn ein wenig liebgewonnen hatte ich diesen positiven Menschen schon…

Ich ging nun mehr oder weniger alleine meinen Weg, da dieser sich immer mehr mit Pilgern und Radpilgern füllte. Ich stöpselte mir meine EarPods in die Ohren und drehte meine Musik laut. Eigene Welt und wenn auch nur im Gehör. Der Camino war auf dieser Strecke wirklich traumhaft. Speziell der schmale, leicht an- und abfallende Waldweg war märchenhaft und hätte in Einsamkeit sicher an Zauber gewonnen.
Ich rastete an einem schönen, leeren Platz auf einer kühlen Steinbank und zog Schuhe und Socken aus. Eine bildhübsche junge Pilgerin passierte mich zügig an dieser Stelle, hielt dann inne und fragte, ob alles in Ordung sei. Ich bejahte dies überrascht und sie ging ihres Weges. Nur eine Sekunde reicht aus, um zu erkennen, dass ich sie mochte. Sie erinnerte mich stark an die spanische Judith von meinem ersten Camino. Fröhlich, aufgeweckt und möglicherweise etwas verpeilt.

Kurz vor Padron war diese junge Frau nun plötzlich hinter mir, somit musste ich sie irgendwann wieder überholt haben. Sie schien sich an meine Fersen zu heften, denn immer wenn ich mich umblickte, sah ich ihre hübsche schlanke Gestalt. Irgendwann blieb ich stehen und wartete, bis sie zu mir aufgeschlossen hatte. Ich lachte sie an und sagte, sie wäre nun schon seit einigen Kilometern dicht hinter mir, so könne man auch zusammen laufen. Sie lachte ebenfalls und erzählte, dass sie ständig “lost“ gehen würde und so dankbar war, dass ich vor ihr herlief, zumal unser Tempo harmonierte. Schon musste ich wieder an Judith denken… also doch: auch verpeilt :-D!
Wir liefen gemeinsam zu einem Kaffee, indem sie einen weiteren Caminofreund treffen wollte: Karl. Ein sehr netter 71-jähriger Herr, der schon mehrere Male die unterschiedlichsten Caminos gelaufen war, den Portugiesischen ca. 11 Mal.
Ich hatte ja inzwischen auch ein Ziel vor Augen, welches ich als Einzelperson über booking nicht buchen konnte, …dachte ich. Doch Karl zeigte mir, wie es dann doch möglich war und so buchte ich das vorletzte Bett nur 15 Min. Wegesstrecke von der Herberge entfernt. Nun konnte ich mein 0,0 mit der ungarischen Lisa und dem deutschen Karl entspannt genießen :-).
Die Herberge war sehr sauber und hatte einen sehr sportlich durchtrainierten und gutaussehenden Besitzer, der uns direkt nach der Ankunft in einen Raum bat. Dort saßen wir nun schwitzend, stinkend und müde eng mit anderen Pilgern zusammen und erhielten einen Geschichtsunterricht über den Ort Padron und seine Umgebung. Unter anderen Umständen hätte ich mich wahrscheinlich über diese sicherlich sehr interessanten Informationen gefreut, doch in dieser Situation nun seinen schnellen englischen Ausführungen zu folgen, war unglaublich anstrengend. Er tronte jedoch vor uns und vermittelte den strengen Lehrer, der Ungebildete verachtete und sich selbst wohl gerne das Bildungskrönchen verpasst hätte. Ich beobachtete Lisa, die ihn offensichtlich ebenso unsympathisch fand und hin und wieder verstohlen gähnte.
Am Ende unserer ca. 45-minütigen Geschichts-Stunde kam die übliche Aufforderung des Lehrers nach Fragen. Kurze Stille, dann erhob ich mich aprubt und meinte: „Yes, where are the showers?“ Natürlich bemerkte ich meine Respektlosigkeit und Ignoranz, welche mir in diesem Moment jedoch nicht leid tat. Ich hatte um den Unterricht nicht gebeten auch wenn dieser sehr eindrucksvoll gewesen war. Tatsächlich hatte ich mich sogar noch zusammengerissen, da ich auch sein Verhalten gegenüber uns respektlos und ignorant empfand. Ich war dankbar für das Teilen seines Wissens, welches er mir gerne im geduschten und gefragten Zustand hätte vermitteln dürfen.
Er merkte wohl, dass ich ihm seine Krone nicht polierte und als dann zusätzlich das warme Wasser ausfiel und ich dennoch duschen ging, bemühte er sich redlich um meine Gunst, was ich auch positiv vermerkte. Er entschuldigte sich gefühlt 5 mal für das kalte Wasser, zeigte mir, wo sein Garten lag, den man gerne nutzen könne und fragte weitere Male nach, ob er mir noch etwas Gutes tun könne. Na also, geht doch auch nett.
Die Herberge war sehr sauber, aber aufgrund der wenig zu öffneten Fenster dennoch stickig. Dafür war der Garten eine wirkliche kleine Erholungsstätte, die ich gerne nutzte.
Karl und Lisa wollten zum Abendessen in die Stadt und fragten, ob ich mitkommen wolle. Ich fand beide unglaublich nett und hätte sie auch gerne viel früher kennengelernt. Aber erstens wollte ich nun dringend meine Rückreise buchen (hatte ja noch keinen Flug) und zweitens keinen großen Hunger. So gingen sie ohne mich und ich brauchte ca. 2 Stunden, bis ich von Porto aus einen bezahlbaren Rückflug gefunden und gebucht hatte, inklusive Busfahrt und Hotels.
Der Einzug nach Santiago stand nun kurz bevor!

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