Es fehlt mehr, als die Alternative

08.05.2022
Am 6. Mai fand die Hochzeit meines Neffen statt. Ein wunderschönes Paar saß vor einer sehr sympathischen Standesbeamtin und wir lauschten gespannt den liebevollen Worten aus den gegenseitigen Berichten: Was liebt ihr am jeweils anderen? Mein Neffe ist gefühlt doppelt so groß wie seine Frau und er teilte am Ende seiner Aufzählungen mit: „Ohne sie bin ich nur halb so groß“, während ihre endeten mit : „Mit ihm bin ich gewachsen.“ Wie sehr gönnte ich ihnen ihr Glück und wünschte ihnen von Herzen, dass dies auf ewig anhalten möge. Und doch tat es auch weh, in Anbetracht der Tatsache, dass ich dies Glück auch mit 54 Jahren noch nicht hatte finden können.
Gegen Abend ging es gemeinsam in ein schönes Restaurant mit gemütlicher Außenanlage, in der es für die Gäste nun den ersten Aperitif einzunehmen galt. Es gab im alkoholischen Bereich 2-3 hübsch angerichtete Angebote, die schon optisch Lust auf mehr machten. Darunter natürlich den Aperol Sprizz mit einer Scheibe Orange und den etwas moderneren Lillet Wild Berry. Ich fühlte mich gut, denn ich hatte kein Verlangen danach. Die alkoholfreie Variante, nach der ich mich erkundigte, war eine sehr saure Fruchtbrause, lieblos eingeschenkt in einem Sektglas.
Ich möchte nicht nörgelnd oder undankbar erscheinen, aber das ist tatsächlich die traurige Realität bei vielen Veranstaltungen und auch in den Gastronomien. Ähnlich, wie vor Jahren noch bei vegetarischen Gerichten, ist man hier zwar vorbereitet, jedoch äußerst dürftig. Als ob man als Nicht-Alkoholtrinker keinen Anspruch auf etwas Besonderes hätte. Das Auge ISST nämlich nicht nur mit, sondern es TRINKT auch mit. Zudem gibt es seit einiger Zeit auch Bier ohne Alkohol, das bedeutet mit tatsächlich 0,0%. Viele alkoholfreie Biere hatten bisher noch einen Restalkoholgehalt von max. bis zu 0,5%. Doch die 0,0% Sorten sind in der Gastronomie noch nicht weit vorgedrungen. Von einer Angestellten des Restaurants musste ich mich fälschlicherweise belehren lassen, dass es Bier ganz ohne Alkohol auch gar nicht gäbe. Nahrungsmitteltechnisch scheint unsere Gesellschaft inzwischen auf einem guten Weg zu sein, bezüglich der Getränke hängen wir aber weit hinterher.
Ich werde nun natürlich oft gefragt, wie ich mit meiner momentanen Situation klarkomme. Und ob es mich stört, wenn andere neben mir Alkohol trinken. Nein! Definitiv nicht! Was andere trinken war mir schon in meiner Alkohol-Phase egal. Ich war oft die Einzige am Tisch, die Alkohol konsumiert hat. Es geht nicht um die anderen, es geht um mich! Aber nicht mehr meinen gewohnten Abschluss des Tages zu haben, mein Gehirn nicht mehr zur absoluten Denkunfähigkeit abschießen und meine Gefühle nicht mehr totsaufen zu können, ja, das fällt mir schwer. Mal mehr mal weniger. Heute mehr. Ich sitze hier und denke an die Spirituosen, die noch in meinem Schrank schlummern und möchte liebend gerne den restlichen Gin in mein Sanbitter-Tonic Getränk schütten. Und ich weiß auch warum.
Ich hatte gestern einen tollen Tag. War mit meinem Ex im Kletterpark und habe mich seit langem mal wieder richtig gut gefühlt. Draußen an der tollen Luft, bei strahlendem Wetter Sport und Spaß mit einem lieben Menschen zu verbringen und dabei an nichts denken zu müssen, was mich belastet, war unfassbar schön. Wieder durchatmen können.
Nun sollte man meinen, das hätte meinen Tank gefüllt. Und sicher ist dies auch bedingt richtig. Der heutige Arbeitstag lief gut, ich hatte nette Menschen um mich und körperlich hat er auch wenig Kraft geraubt. Doch kaum zu Hause fällt die momentane Perspektivlosigkeit über mich her. Die nächsten Tage werden wieder hart und bis zu meiner Abreise am 2.Juni zum Camino Portugues habe ich voraussichtlich nicht einen komplett freien Tag um wieder auftanken zu können. Die tägliche Arbeitszeit macht es mir momentan auch nicht möglich regelmäßig joggen oder wandern zu gehen, wobei ich oft abschalten und regenerieren konnte. Ich weiß, dass es anderen oft auch nicht besser geht, aber das nützt mir nichts. Ich habe das Gefühl keine Kraft mehr für dieses Pensum aufbringen zu können. Zumindest nicht, ohne ein regelmäßiges Anfahren seelischer Tankstellen.
Hier fehlt er mir nun, – mein erklärter Feind: Der Alkohol! Ich möchte mich wegbeamen und nicht denken müssen. Ich möchte morgen früh meine Decke und meinen nicht mehr vorhandenen Teddy nehmen und mich daumenlutschend in eine Ecke verkrümeln bis meine verstorbene Mutter kommt, die mich tröstet und sagt: Alles wird wieder gut!
Es ist nicht maßgeblich der Alkohol, der mir fehlt. Es sind ganz andere, viel bedeutendere Dinge. Aber der Alkohol hat mich oft vergessen lassen, dass diese Dinge fehlen.

6 Kommentare