29.05.2022

Ich führte gestern das erste Gespräch mit meinem Vater und seiner Frau über meinen Alkoholkonsum und meinen Entschluss abstinent zu werden. Ihre Reaktion war ruhig und aufmerksam. Ich denke, auch ich wirkte anfangs ruhig, auch wenn das Kind in mir sich sehr schämte. Natürlich wurde auch hier hinterfragt, wie es sein konnte, dass ihnen mein Alkoholismus nie aufgefallen war. Bis zu einem bestimmten Alkohol-Level ist eine Vertuschung in der Gesellschaft überhaupt kein Problem. Wir werden wahre Meister im Versteckspielen. Das beginnt schon beim Einkauf, bei dem wir akribisch darauf achten, dass mögliche aufmerksame Mitarbeiter von Aldi, Kaufland oder Norma nicht hinter unser dunkles Geheimnis blicken. Und so wird der benötigte Vorrat in Etappen mal hier und mal dort gehamstert oder mit anderen Einkaufsartikeln, wie Chips und Gummibärchen als kleiner Party-Einkauf getarnt. Auf privaten Feiern mit freiem Zugriff auf die Flasche Wein, wird gerne mal im unbeobachteten Augenblick ein großer Schluck aus dem Glas genommen und dies sofort wieder auf eine unauffällige Höhe aufgefüllt. Zwischendurch wird dann noch laut betont, dass man nun mal ein Glas Wasser trinken müsse, da einem der Wein sonst in den Kopf steige. Und wenn die Flasche dann plötzlich leer ist, wird diese Tatsache gerne auf einen weiteren Mittrinker geschoben, der heute ja ‚ganz schön was wegsäuft‘.

Nein, niemand muss sich hier anschließend Vorwürfe machen, nur weil wir uns über unsere beschämenden Verhüllungs-Fähigkeiten täglich auf die Schulter klopften.

Das Gespräch verlief jedoch in eine unangenehme Richtung. Während ich recht kläglich versuchte, nun die Gedanken über meinen Blickwinkel zum Alkohol zu beschreiben, nahmen meine Worte die Form einer Belehrenden an. Erst als beide mich darauf hinwiesen, dass ich nun wie eine ‚Querdenkerin‘ den Alkohol verteufelte, wurde mir langsam bewusst, dass ich möglicherweise über das Ziel hinausschoss. Allerdings kam die absolute Erkenntnis erst Stunden später, als ich wieder zu Hause war. Dabei war es nie meine Absicht gewesen, den Menschen gegenüber den Alkohol nun gänzlich zu verteufeln. Ich gönne nach wie vor jedem sein gutes Glas Wein und sein gemütliches Bier. Meine Gedanken über den Alkohol sind ein reiner Selbstschutz und haben nichts mit dem Trinkverhalten anderer zu tun. Wenn ich über das ‚Gift‘ spreche, heißt das natürlich nicht, dass ich Menschen damit ihren Genuss vermiesen will. Den Alkohol als ausschließlich Solches zu sehen ist mein festgezurrter Sicherheitsgurt, weil ich hier im Formel 1 Fahrzeug sitze. Wer alkoholtechnisch Bobby Car fährt (und das ist nicht abwertend gemeint), sollte sich damit nicht konfrontieren müssen.

Ich bitte um Verständnis, dass das Bedürfnis, andere vor dem gleichen Schicksal zu bewahren, dennoch dazu führen kann, dass man als abstinenter Neuling manchmal zu sehr aufs Gaspedal tritt. Und es ändert auch nichts an meiner Meinung, dass die Verherrlichung und Propaganda des Alkohols aus den Medien verschwinden muss.

Ich bin meinem Vater und seiner lieben Frau dankbar für ihre klaren Worte. Sie haben Verständnis für meine Situation gezeigt aber auch darauf aufmerksam gemacht, dass diese mich nicht berechtigt, sie zur Diskussions-Grundlage der gesamten Menschheit zu machen. Nur weil ich nicht kontrolliert genießen kann, muss ich es anderen nicht vermiesen.

Danke! Ich habe verstanden :-).

30.05. Heute war wieder Gruppensitzung. Ich fühle, dass das Verständnis für meine Suche nach irgendeiner emotionalen Verbundenheit nicht ankommt. Möglicherweise trage ich diesen Wunsch nicht klar genug vor. Es ist ja nicht so, dass ich nicht IRGENDWANN auch von mir erzähle. Nur momentan scheint das Redebedürfnis der anderen wesentlich stärker zu sein und ich sehe keinen Sinn darin, ihnen die kostbare Zeit zu stehlen. Zudem sauge ich diese Erzählungen auf, analysiere, verbinde, suche Parallelen. Ich fühle mich in dieser Gruppe noch immer allein mit meinen wirren Gedanken und Gefühlen.

Es war erst das zweite Treffen, aber ich spüre, dass es das nicht ist, auch wenn ich nach meiner erneuten Pilgerreise einen weiteren Versuch sicherlich wagen werde. Wo sollte ich auch sonst hin?

Auf meinem Rückweg in die Tanzschule liefen seit langer Zeit einmal wieder die Tränen. Es tut gut Emotionalität zu fühlen. Auch wenn es nur Traurigkeit ist.