05.05.2022

Ich habe den ‚Tanz in den Mai‘ hinter mir gelassen. Nicht ganz so souverän, wie ich es mir gewünscht hätte. Meine Party-Stimmung hielt sich in Grenzen, was ich jedoch sonst gut überspielen kann.

Sei gut drauf, verbreite Stimmung und lass diese möglichst nicht mehr abklingen! Bis auch der Letzte den Raum noch singend verlässt! That´s your fucking Job!

Doch meine Konzentration war nicht auf dem Punkt. Es fiel mir noch schwerer als sonst, Gesprächen zu folgen und nebenher die passende Musik zur passenden Stimmung zu finden. Eine Stimmung, die ich nicht erspüren konnte, weil mein Kopf nicht offen dafür war. Unterm Strich war die Veranstaltung nicht meine beste Leistung, aber ob dies für die feiernden Menschen zu spüren war, kann ich nicht beurteilen. Gesagt hat niemand etwas.

Das Angebot mich am kommenden Tag einer Fahrradtour anzuschließen lehnte ich dankend ab. Ich sehnte mich zu sehr nach Ruhe. So lief ich am 1.Mai mutterseelenallein 25 km und war zufrieden. Am Abend besuchte ich noch einen Bekannten und teilte mir mit diesem 2 Flaschen alkoholfreie Radler. 0,0%! Darauf hatte ich beim Kauf geachtet.

Momentan pfeife ich noch auf die sicher gutgemeinten Ratschläge irgendwelcher Pseudo-Therapeuten, deren Erfahrung mit Alkoholsucht über ein: Die Frau des Bruders meines Arbeitskollegen war Alkoholikerin, nicht hinausgehen. Meine erste und momentan wichtigste Grundregel lautet: KEINEN ALKOHOL!!! No more – no less! Lasst mich meinen Weg gehen!

Das Rauchen habe ich etwas ‚reduziert‘, was bei einer Zigarette pro Tag nun auch nicht wirklich schwer ist. Die Gefahr von einer Sucht in die nächste zu rutschen ist spürbar nah. Keine Ahnung, weshalb das so ist. Aber auch der Alkohol ist nicht die einzige Sucht, die mein Leben bisher bestimmte. Mit 12 Jahren begann ich zu rauchen. Zu dieser Zeit war Zigarettenwerbung, ebenso wie heute noch die Alkoholwerbung, ein großer Bestandteil in den Medien. Wer rauchte war stark und frei, wie der sicher sitzende Cowboy auf dem wilden Pferd. In ‚Frühstück bei Tiffany‘ untermalt die Zigarette mit eleganter Zigarettenspitze die glamouröse Audrey Hepburn und lässt sie stark und selbstbewusst wirken. „So möchte ich auch sein…“

Ebenso ergeht es uns heute noch immer mit der Alkoholwerbung!

Mit ca. 40 Jahren hörte ich langsam auf zu essen. Ich kontrollierte jede Kalorie und prüfte täglich mein Gewicht. Jedes Gramm, welches ich verlor, löste Glücksgefühle in mir aus.

Auch das gaukelten uns die Medien täglich vor: Skinny= erfolgreich. Die schönen Models auf dem Laufsteg, berühmte Schauspielerinnen und an jeder Seite eines begehrten Mannes: ein Hungerhaken. Wenig Ausnahmen.

Und ich blöde Kuh falle auf jedes Lockangebote herein, welches ruft: „Wenn du mir folgst, dann werte ich dich auf!“ Bullshit!

Ich hungerte mich auf 54 kg herunter, was bei meiner stattlichen Größe von 1,78m einem BMI von 17 entsprach. ‚Normal‘ wäre ein BMI zwischen 18,5 – 24,9.

Was hat dies nun mit meiner aktuellen Sucht zu tun? Vermutlich mehr, als man glaubt!

Aufgrund des fehlenden Alkohols habe ich inzwischen 3 kg verloren. Das ist nun erst einmal für korpulente Menschen, die ebenfalls mit dem Abstinenz-Gedanken spielen, eine erfreuliche Nachricht. Ich vermute jedoch eine gefährlich falsche Annahme. Ich habe inzwischen von einigen Leidensgenossen von einer starken Gewichts-Zunahme gehört. Hier erfolgte ‚die Belohnung‘ und das damit verbundene ‚Glücksgefühl‘ durch Nahrungsaufnahme. Beispielsweise durch das ‚Ersatzprodukt‘ Schokolade. In meinem Fall löst die Gewichts-Abnahme Glücksgefühle aus und lässt in meinem Hirn sämtliche Alarmglocken läuten!

Mein angestrebtes Ziel: Leben mit der Hoffnung auf ein wenig Glücksgefühle.

Meine Angst: Ein wiederholter Suchtwechsel.

Wenn ich Menschen erzähle, dass meine Gedanken ständig um das abendliche Getränk kreisen, bekomme ich völlig verständnislos zu hören: „Trink doch Wasser.“ Das funktioniert so aber nicht! Und wenn ich euch nun erzähle, dass ich befürchte wieder täglich mein Gewicht zu kontrollieren, werden viele sagen: „Dann tu es nicht“, oder schlimmer noch: “ Dann iss doch einfach mehr.“ Aber so EINFACH ist das eben nicht!

Ich bin mir dieser Gefahren bewusst. Sie machen mich wütend- wie so oft! Ich suche verzweifelt den Schalter, der im Bestreben nach der vermeintlich öffentlichen ‚Perfektion‘ immer noch auf ON steht.

Du musst immer gut gelaunt und unterhaltsam sein; gesellig; schlank und attraktiv; gesellschaftstauglich. Funktional um das Leben anderer zu bereichern.

Niemand will mich als Frack. Weil ich dann möglicherweise niemandem mehr zur Verfügung stehe. Klingt hart. Liege ich denn so falsch? Oder beginne ich langsam aus Eigenschutz, die Schuld nicht mehr nur bei mir selbst zu suchen? Möglich. Vielleicht ein schwacher Wunsch- nicht nur Täter, sondern auch ein wenig Opfer sein zu dürfen. Wobei mir diese Erkenntnis ja nicht helfen würde. Die Verantwortung für mein Handeln – aus welchen Umständen auch immer – muss ich letztlich ja doch selbst tragen.

Heute ist mein 54. Geburtstag. Ich bin nun seit fast 17 Tagen trocken. Trotz der wesentlich besseren Nächte bin ich noch immer sehr müde. Müde und möglicherweise undankbar.

Der Höhepunkt meiner steilen Abwärts-Karriere im Kampf gegen die Pfunde.