Der letzte Eintrag in diesem Blog liegt schon einige Wochen zurück. Inzwischen bin ich meinen zweiten Jakobsweg, den Camino Portugues, gelaufen und der Alltag hatte mich nur kurze Zeit später wieder mit erbarmungslos offenen Armen aufgenommen. Der immer wiederkehrender Rückfall. Alles wehrt sich in dir und dennoch kannst du nicht anders. Ist es bei einer Suchterkrankung ähnlich? Wahrscheinlich. Noch kann ich hierzu keine Erfahrung berichten und so soll es auch bleiben. Das ist der Plan!

Auf meinen Wanderungen habe ich meist keine Pläne. Ich laufe los, wenn ich meinen Rucksack schultere und bleibe dort, wo man mich aufnimmt und mein Körper Ruhe einfordert. Ein Freiheitsgefühl von dem ich mir erhoffe, es auch irgendwann in meiner Alkohol-Abstinenz zu finden.

In der Gruppensitzung an meinem ersten Arbeitstag habe ich fast schon damit geprahlt, wie leicht mir das ‚Trockenbleiben‘ fällt. Das wissende Lächeln der anderen ist mir dabei nicht entgangen. Kaum einer ohne Rückfälle. Mehrzahl! Und schon einen Tag später war der Suchtteufel wieder präsent und belagerte meine Gedanken. Jeder Tag mehr lässt das ‚Für immer‘ auch mehr wiegen. Es sind erst zwei Monate und somit nur ein Bruchteil dessen, was ich möglicherweise noch durchzustehen habe. Wenn ich laufe, zählt nur der Weg des Tages. Weiter schaue ich nicht und irgendwann bin ich doch wieder am Ende angelangt. Erst dann beginne ich zu planen- den nächsten Weg.

Auch bei meinem Weg aus der Sucht zählt zunächst nur der Tag. Aber dabei kann ich in die noch neblige und unsichere Ferne sehen. Wenn der Schleier sich lichtet erhoffe ich mir die Freiheit, welche ich mir so sehr wünsche. Doch die Sicht ist zu schlecht um die Länge der Strecke erkennen zu können. Was, wenn diese niemals endet?

Mir wurde vor einigen Tagen gesagt, dass ich offensichtlich sehr kontrolliert sei. Steht das nicht im Widerspruch zu meinen Süchten, in denen ich mich ja offensichtlich nicht unter Kontrolle hatte? Mich hat diese Aussage lange beschäftigt und ich begann zu reflektieren: Ja, selbst meine Süchte hatten etwas mit Kontrolle zu tun. Innerhalb der Essstörung war diese sogar extrem ausgeprägt. Mein Trinkverhalten lief ebenfalls gesteuert ab. Es gab eine klare Linie, die nur selten zur Schlangenlinie wurde. Meine kompletten Abstürze in der Öffentlichkeit halten sich in einem durchaus begrenzten Rahmen. Meist fanden diese nur in meinen vier Wänden in alleiniger Anwesenheit meiner Rotweinflasche statt. Wenn ich außerhalb dieser Schutzmauern meine Grenze überschritten hatte, war ich oft schon ohne jegliche Verabschiedung auf dem Weg nach Hause gewesen.

Die Kontrolle über den Kontroll-Verlust. Nicht nur beim Alkohol.

Ob mich diese ganzen Therapie-Stunden wirklich weiterbringen, kann ich nicht sagen. Ich fühle mich dort oft fremd und deplatziert. Möglicherweise ging ich bisher mit einer Erwartungshaltung an diese Stunden heran, die gar nicht erfüllt werden können. Die Antworten, die ich suche, werde ich wohl nur bei mir selbst finden. Die Blase, in der ich mich befinde, kann nur von mir selbst zum Platzen gebracht werden. Momentan kratze ich noch mit einem stumpfen Löffel unsicher an dieser festen Hülle. Momentan bietet sie noch Schutz vor dem, was mich da draußen erwartet.

Manchmal fühle ich mich wie der Hauptdarsteller eines selbst inszenierten und doch fremden Lebens. Als ob meine Seele hier gar nicht hingehört. Wohl vergleichbar mit Menschen, die sich im geschlechtlich falschen Körper befinden. Das war nicht immer so, doch ich kann nicht genau zurückverfolgen, wann diese Fremde begonnen hat. Doch spüre ich auch, dass ich mich mir annähere. Ich habe begonnen, selbst kurze schöne Momente so zu genießen, als wären sie nicht endlich. Ich fange frequenzweise an zu ‚erleben‘: Das bunte Treiben am Badesee und das Spüren von Luft und Wasser, den Kinofilm, das freie Tanzen bei einem abendlichen Event und vor allem das stundenlange Laufen durch die belebte und belebende Natur. Früher quälten mich dabei ständig grübelnde Gedanken und ließen die Außenwelt an mir vorbeiziehen. Ohne den Rausch des Alkohols beginne ich langsam zu fühlen. Möglicherweise ist es das, was mir Angst macht und mich dennoch auch freut. Auf der Suche nach dieser Art von Gefühlen habe ich nämlich eines nicht bedacht: Sie sind nicht immer kontrollierbar.

Ich habe den abendlichen Wein inzwischen mit alkoholfreien Mix-Getränken ersetzt, welche ich oft mit einer Scheibe Orange in einem Weinglas kröne. Auch das alkoholfreie Bier gönne ich mir nach wie vor. Es hält sich der Irrglaube in der Gesellschaft, dass dies für einen Alkoholiker nicht förderlich, nein- sogar nicht erlaubt sei. Dies mag in vielen Fällen auch zutreffen. Aber Alkoholismus ist viel vielfältiger als auch ich bisher angenommen hatte. Während es den einen ‚trickert‘ wieder ein ‚richtiges‘ Bier trinken zu wollen, löst es in mir keinerlei Bedürfnis nach Alkohol aus. Im Gegenteil merke ich, dass Alkohol in meinem Getränk für das abendliche ‚Belohnen‘ und die Geselligkeit nicht nötig ist. Der Rausch fehlt mir nur, wenn die Gedanken sich wieder überschlagen und ich dauerhaft nicht abschalten kann. Dann beginne ich zu schreiben, laufe oder telefoniere mit Freunden. Manchmal lege ich mich auch einfach ins Bett, starre in die Luft und denke an meine Wünsche und Träume. Gegenüber auf meinem Schuhschrank sehe ich dann die Karte, welche meine Tochter mir geschenkt hat: Alles wird gut!