Viel mehr von mir

12.05.2022
Ich hatte inzwischen meinen ersten Termin in der Suchtberatung bei einer jungen, attraktiven und sehr sympathischen Frau mit ihrem jungen Labrador. Als Tierfreund empfand ich die Anwesenheit des freundlichen Hundes als sehr entspannend, was jedoch nicht nötig gewesen wäre, da ich völlig emotionslos das Gebäude betreten hatte. Sie nahm sich viel Zeit, hörte zu und beantwortete meine Fragen. Mit Abschluss der ersten Woche meiner Alkoholabstinenz wären die körperlichen Suchterscheinungen abgeschlossen. Somit stellte sich mir nun die erneute Frage, was die letzten Tage wohl körperlich in mir vorging.
Inzwischen schlafe ich, wenn meist auch mit Schlafmitteln, ca. 4 Stunden durch. Meine nächtlichen Krämpfe, welche mich seit mehr als 5 Jahren begleitet hatten, sind verschwunden. Fühlt sich merkwürdig an. Als ob etwas fehlt. Dafür kribbelt nun mein Körper, als ob ich unter einem aufgewühlten Ameisenhaufen begraben wäre. Es ist durchaus angenehmer als der Zustand zuvor, allerdings verunsichert er mich. Am Alkohol liegt dies nun ja offensichtlich nicht.
Emotionen haben sich noch keine eingestellt. Mein Therapeut sagt, dies benötige Zeit.
Die junge Frau der Suchtberatung hat mir unter anderem zu einer Gruppen-Therapie geraten. Der Austausch mit Gleichgesinnten könnte guttun und weitere Fragen beantworten, von denen ich mir ein wenig erhoffe, dass sie auch motivieren.
Die letzten Tage war das Bedürfnis nach dem alkoholisierten Rauschzustand enorm groß. Ich hätte nicht vermutet, dass dies nach den doch erfolgreichen ersten zwei Wochen so hart zurückkommen würde. Selbst jetzt, während ich hier sitze und darüber schreibe, spüre ich das Verlangen nach diesem erlösenden Abtauchen aus dem Lebens-Alltag. Mir wird auch täglich bewusster: Nun ist es für immer! Ich werde im Sommer nicht mit einem Aperol Sprizz auf der Terrasse sitzen, werde keinen Sekt auf den nächsten Geburtstagen oder Hochzeiten trinken und keinen Glühwein auf dem Adventsmarkt. NIE wieder! Wenn ich durchhalte! Und das ist der Plan! Schön fühlt es sich dennoch noch nicht an. Im Gegenteil. Ein wenig ist es doch der gefühlte Austritt aus der Gesellschaft. Auch wenn mir bewusst ist, dass dies völliger Quatsch ist. Aber… finde den Schalter!
Aufgeben werde ich nicht. Ich habe diesen Weg gewählt und wünsche mir am Ende ein Schulterklopfen meiner eigenen Hand. Stolz auf mich selbst sein. Das wäre schön. Wieder Lebensfreude empfinden, das wäre das Highlight.
Ich treffe mich ab und zu mit einem guten Freund. Ob und welche Form einer möglichen Sucht er durchmacht oder ob es einfach nur gesundheitliche Gründe sind, ist mir nicht bekannt. Aber auch er scheint sich in einer Blase zu befinden, in der Glücksgefühle keinen Zutritt haben. Mit ihm zu sprechen tut mir gut. Ich fühle mich dann irgendwie normal. Nicht alleine. Da gibt es noch mehr von mir. Er macht mir Mut und bestärkt mich nicht aufzugeben. Er sucht zusätzlich nach Lösungen außerhalb der Rat gebenden Therapeuten und Mediziner, beliest sich und probiert aus. Er bietet mir an, mich mitzunehmen auf der Suche. Ob ich den Mut hierfür aufbringe weiß ich noch nicht, aber der Wunsch nach Glücksgefühlen ist natürlich groß.
Möglicherweise werfen meine Worte manchmal ein falsches Licht auf meinen Zustand. Ich bin NICHT unglücklich. Ich empfinde einfach nur nichts. Außer Wut, die spüre ich oft und diese treibt mir auch einige Male sicher ein paar Tränen in meine Augen. Aber im Grunde geht es mir gut.
Ich möchte mich verändern – irgendwann auch beruflich. Habe Träume und Wünsche, welche ich mir erfüllen möchte. Aber es nützt nichts Bäume zu umarmen und in den Wald zu rufen, wenn man dabei nichts empfinden kann. Daran muss ich arbeiten.
Ich lese nun das Buch von Daniel Schreiber: Nüchtern! Anfangs fand ich mich in seinen Worten nicht wieder. Inzwischen markiere ich mit einem neongelben Textmarker jede Stelle, die mir aus der Seele spricht. Die Seiten erinnern nun an einen weiß-gelben Zebrastreifen.
DA SIND NOCH VIEL MEHR…
Ich sehe mir die Menschen an und ertappe mich dabei, wie ich denke: Gehörst du auch zu uns? Und weißt du es schon oder wiegst du dich noch in der Illusion, alles im Griff zu haben?
Es ist wichtig zu wissen, dass man nicht alleine ist, auch wenn dies in dieser Situation eher eine sehr traurige Tatsache ist.
Wann stehen wir auf und wehren uns gegen die Verherrlichung einer stark gesundheitsschädlichen Substanz, die unter anderem auch unsere Kinder betrifft. Ich gönne jedem sein Glas Wein oder seine Flasche Bier. Ebenso, wie ich jedem seine Zigarette gönne. Aber müssen wir unseren Kindern wirklich vorgaukeln, dass Alkohol cool und erwachsen ist? Wer von euch hat seinem Kind mit 14-16 Jahren eine Zigarette angeboten, weil: ‚du bist doch jetzt erwachsen‘ und wer ein Glas Sekt?
Ich denke oft darüber nach, wie alles begonnen hat. Ein richtiges Zeitfenster finde ich nicht. Schon früh während meiner Ausbildung war das gemeinsame Trinken am Ende eines Kurses, einer Veranstaltung oder einfach nur eines Tages zu einer mehr oder weniger regelmäßigen Gewohnheit geworden. Damals trank ich noch nur in Gesellschaft. Den genauen Moment, als Alkohol aus meinem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken war, habe ich verpasst. Aber plötzlich war er ständig in meinem Kopf, bestimmte meine Gefühlswelt und forderte mich heraus. Und ich verlor! Jeden Tag!
Es wurde dringend Zeit die Seite in diesem makabren Spiel zu wechseln…



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