Direkt mit dem Erwachen um 6:00 Uhr stand die Entscheidung fest: Ich wollte mich „entlasten“! Und zwar sofort! Google Maps zeigte mir, dass die Post, nur 3 Gehminuten entfernt, um 8:30 Uhr öffnete. Das bedeutete, dass ich gemütlich packen und frühstücken konnte. Es entwickelte sich eine richtige Vorfreude auf den verminderten Druck auf den Schultern. Körperlich und seelisch! Um 8:30 Uhr stand ich dann pünktlich in der Post und vermittelte per pantomimischer Höchstleistung, der „sololingualen“ Postangestellten, dass ich einen Karton benötige, in dem ich mein unnötiges „Übergewicht“ für die Heimreise nach Deutschland verpacken könnte. Ich zeigte ihr auch bereitwillig meine gesammelten Werke und sie brachte mir sehr optimisisch einen kleinen Karton. Meine hochgezogene linke Augenbraue und der wechselnde Blick zwischen „Kartönchen“ und „Balastberg“ ließen sie wortlos die nächste Größe bringen. Geht somit auch ohne Sprache 🤷🏻‍♀️. Nachdem ich aus der Post trat, war mein Rucksack um unglaubliche 2,5 kg und mein Geldbeutel um noch unglaublichere 45 € leichter. Schicken die Spanier das Paket nach Deutschland über Timbuktu🤔?

Trübes Morgenwetter in Colunga

Ich konzentrierte mich auf meinen Gang obwohl ich das eigentlich nicht wollte. Aber inzwischen war ich so auf mein schmerzendes Bein fokussiert, dass es schwer war davon loszukommen. Es lief sich aber gut. Ich lief bewusst langsam und freute mich auf den „Spaziergang“ nach Villaviciosa. Ja, ich hatte inzwischen wieder einen Ziel- und Zeitplan! Am 25.07. fand das Fest zu Ehren des heiligen Jakobus in Santiago statt. Ein besseres Timing konnte es, zudem im heiligen Jahr, überhaupt nicht geben! Bis dahin musste ich es schaffen! Bei einem täglichen Lauf-Pensum von 20 km wäre ich pünktlich dort!

Ich lief trotzdem mit angezogener Handbremse. Die Schmerzen des gestrigen Tages waren noch durchaus in Erinnerung. Nach kurzem Einlaufen fing ich dann doch wieder an, meine Umgebung wahrzunehmen. Die frische Luft, da es in der Nacht wieder geregnet hatte, das Zwitschern der Vögel, das dumpfe Klingen der Kuhglocken, der Geruch des feuchten Grases. Abschalten!
Irgendjemand hatte die Berge noch in Watte gepackt. Auf jeden Fall schienen diese noch zu schlafen, obwohl es inzwischen schon kurz nach 9:00 Uhr war.

Schon seit einigen Tagen wiesen die Camino-Wegweiser auch die Rollstuhl- geeigneten Wege aus. Ich hatte zwar noch keinen gehbehinderten Pilgerer (außer mir selbst 🙄) gesehen, es hätte mich aber durchaus interessiert, ob dieser von Rolli-Pilgerern tatsächlich genutzt wird. Und wie oft im Jahr.

Ich hatte noch immer die Angewohnheit stark abfallene Wege lieber rückwärts zu bewältigen. Diesmal hätte dies allerdings beinahe das Ende einer Schnecke bedeutet, die noch entspannter den Camino entlangkroch als ich. So drehte ich mich nun alle 5 Meter um, checkte die freie Straße und lief dann bis zu meinem optisch markierten Randpunkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser selten vorkommenden Turboschnecken plötzlich die Straße überqueren würde, war dann doch mehr als unwahrscheinlich 😉. „So lief ich denn ganz munter, rückwärts den Berg hinunter.“

Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Klackern und Krachen, drehte mich herum und beobachtete einen Vogel, der seinen Schnabelinhalt immer wieder gegen einen Stein schlug. Ich hielt es für eine Nuss und trat vorsichtig näher. Leider konnte ich nicht schnell genug das Handy für ein Foto oder Video zücken. Aber als der Vogel sein Werk erledigt hatte, flog er davon und auf dem Stein blieb zurück… das Gehäuse einer Schnecke! Während ich das Leben der Schnecken bewarte, stillte Gevatter Vogel seinen Hunger damit. Nach kurzer Trauer über den schleimigen Freund, hielt ich diese Variante seines Todes dann als doch durchaus sinnvoller, als ein zertretener Rest unter meinen Wandersohlen zu sein.

Ich war nun eine gute Stunde unterwegs. Meine Uhr zeigte 3,7 km an, was aufgrund meines gezügelten Ganges durchaus akzeptabel war. Wie aus heiterem Himmel schoss es mir plötzlich durch das rechte Bein. Der Schmerz kam unerwartet und ich sackte kurz ein. Jeder Schritt war wie das Anstoßen am „Musikknochen“ des Ellenbogens oder wie ziehende Zahnschmerzen, nur eben im Bein. Vom Fuß bis unter die Pobacke folgte ein „Stromschlag“ dem anderen. Ich humpelte zu einer alten Bushaltestelle und setzte mich dort atemlos hin. Weit und breit keine Menschenseele. Außer Familie Kuh (mit interessierten Kälbchen und ignorantem Bullenvater🙄), war niemand in der Nähe. Ich schaute nach dem nächsten Ort und einer eventuellen Busmöglichkeit, denn eines war mir, Fräulein Ehrgeiz und Herrn Stolz in diesem Moment klar: Rien ne va plus! Nichts geht mehr 🤷🏻‍♀️. Noch nie war der Zusammenhalt so stark, wie in dieser Situation! Ich beschloss, die halbe Etappe mit dem Bus zu fahren, ausnahmsweise. Mir wurde in weiteren 4 km eine Bushaltestelle angezeigt. Das wären in meinem Zustand ca. 1,5 Stunden. Eventuell sogar mehr. Ich zückte die Ibu- Tabletten und warf 2 x 400 mg ein. Dazu aß ich ein paar Kekse, die ich noch in Colunga erworben hatte und wartete ca. 10 Minuten. Dann ging es los! Schritt für Schritt. Aufgrund des Schmerzmittels ging es tatsächlich verhältnismäßig gut.

Ich kam an der Kirche „San Salvador de Priesca“ vorbei und testete kurz, ob sie verschlossen war. So sehr dies jetzt egoistisch und heuchlerisch erscheinen mag, ich hätte sie betreten, um für die Heilung meines Beines zu bitten. Der Weg nach Santiago ist für mich weit mehr als ein langer sportiver Wanderweg. Der Gedanke, den Camino gehen zu können, hatte mir Hoffnung gegeben. Es nun auch zu tun, und wenn auch meist unter großer Anstrengung, schenkte mir die seelische Energie und Kraft, die mir in den letzten Monaten verloren gegangen war. Das widerlegt nicht die Heuchelei, die mit meinem Vorhaben verbunden war. Aber es zeigt vielleicht, wie wichtig mir dieser Weg wirklich ist!

Beim Wandern sagt man oft: ‚das was du hoch musst, das musst du auch wieder runter‘. Und in den meisten Fällen ist das auch so. Heute ging es gefühlt nur noch bergab. Körperlich, seelisch und „wegisch“. Nach jeder Kurve… bergab! Dazu brannte die Sonne wieder ohne Gnade.

An einer Kreuzung hatte ich die Wahl zwischen Straße und einem, von Bäumen umsäumten Landschaftsweg, auf dem man der Sonne etwas entgehen konnte. Dieser endete auf einer sehr verwahrlosten Anlage, in der sich Schrott, enge Hühnerkäfige und angeleinte schmutzige Hunde wiederfanden. Die Menschen, die hier wohl lebten und arbeiteten wirkten argwöhnisch und wenig vertrauenserweckend. Ich erblickte mehrere Hühner mit ihren Kücken und konnte mir einen kurzes Gefühlsgurgeln nicht verkneifen. Einer der Männer kam näher und signalisierte mir, dass ich hingehen dürfe. Ich zückte mein Handy und zeigte an, dass ich die Kücken gerne fotografieren würde. Er schaute nicht begeistert, nickte aber dann doch mit dem Kopf. Ich denke, wenn ich versucht hätte, weitere Bilder von dem Zustand seines „Lagers“ zu machen, hätte er mir das Handy abgenommen. Deshalb riskierte ich hier lieber nichts.

Inzwischen hätte ich die angezeigte Bushaltestelle längst erreichen müssen. Sie sollte in einem Ort names ‚N(j)abla‘ sein. Google Maps zeigte mir einen weiteren schattigen Waldweg, der ebenso in diesen Ort führen sollte. So bog ich nach links ab. Der Weg führte natürlich bergab! Ich war nun schon gute 2 Stunden unterwegs und hoffte, bald eine Fahrgelegenheit nach Villaviciosa zu finden. Ich lief bis dieser Weg endete. Und an diesem Ende lag auf Google Maps zwar der rote Punkt, mehr aber auch nicht! Ein paar Ziegen, aber ohne Busführerschein🤷🏻‍♀️. Fluchend machte ich mich auf den Rückweg. An der Straße angekommen, checkte ich nochmal meine Möglichkeiten. Nichts! Der nächste Ort war Villaviciosa! Jetzt noch knapp 7 km entfernt. Okay, der Camino hatte mich! Mir liefen das erste Mal vor Schmerz und Verzweiflung die Tränen. Nur kurz, dann wurde ich wütend! Ich schlug mit meinem Pilgerstab auf den Asphalt ein und brüllte: „Okay, du hast es geschafft! Du scheiß Straße! Was willst Du noch? Und wenn ich im Schneckentempo nach Santiago komme! Du hinderst mich nicht!“ Das sind tatsächlich ziemlich identisch die Worte, die ich einer erbarmungslos abfallenden, jedoch auch völlig leb- und emotionslosen Straße entgegenrief. Besonders stolz bin ich nicht darauf 😕. Der weiße Kittel mit den langen Ärmeln war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr fern.

Seit drei Wochen humple ich die Straßen mal vorwärts und mal rückwärts ab. Es ist wohl ein ungeschriebenes Gesetz, dass kein vorbeifahrender Autofahrer jemals bei einem Pilger anhält, um ihn zu fragen, ob er ihn mitnehmen könne. Und ich hätte mir den Daumen eher abgebissen, als ihn hinausgestreckt. So wütend, wie ich war, lief ich zwar noch immer stark hinkend, aber relativ zügig weiter. Und da hielt doch neben mir ein kleines rotes Auto und ein Herr fragte aus dem offenen Fenster emotionslos: „Villaviciosa?“ Ich schaute ihn fassungslos aber auch dankbar an und sagte: „Si“. Er fuhr mich auf mein Bitten hin zum Krankenhaus. Die Entscheidung fiel spontan, als er mich fragte, wohin ich genau wolle. Als ich ausstieg sagte ich ihm, dass ein Engel ihn mir geschickt habe und bedankte mich. Er brummelte etwas, dass ich nicht verstand und fuhr weiter.

Der Arzt sagte nach 10 Minuten den Satz, den ich nicht hören wollte: „I don‘t think, that you will finish the way“. Ich antwortete: „Yes, I will!“ Er grinste hinter seiner Maske und sagte, dass wüsste er. Er hätte schon einige Pilger hier liegen gehabt. Er sage nur, was er sagen müsse. Ich hatte aufgrund der Knieschonung wohl mein Bein falsch belastet und damit meine Muskeln überfordert. Das einzige Mittel, dass hier helfen würde, wäre: NICHT zu laufen! In ca. 1 Woche wäre das Bein dann sicher schmerzfrei und es würden auch keine Folgeschäden bleiben. Ich fragte, was passieren würde, wenn ich weiterliefe. Er meinte, es würde hauptsächlich wehtun und könne sich natürlich bei dauerhafter Überbelastung verschlimmern. Er beruhigte mich aber augenzwinkernd mit den Worten: „ab und zu eine Pause mehr kann nicht schaden“.

Ich lege natürlich morgen einen Ruhetag ein und werde keine Stadtbesichtigung durchführen ☝🏻! Um mich nicht zu langweilen, habe ich mir etwas ausgedacht, dem ich jetzt nicht vorgreifen möchte.

Ich werde weiterlaufen und im allerschlimmsten Fall die ein oder andere Etappe mit dem Bus zurücklegen. Das ist allerdings Plan B. Momentan hoffe ich noch, wenn auch sehr langsam, zu Fuß ans Ziel zu kommen. Ich weiß Eure guten Ratschläge zu schätzen und es tut mir leid, wenn ich jemandem Sorge bereiten sollte. Ich möchte Euch bitten, mir zu vertrauen. Ich tue es nämlich auch.

Villaviciosa