16.06.23

Ich schlief bis 4:40 Uhr und versuchte dann möglichst geräuscharm die quietschende Matratze des Stockbettes zu verlassen und die Stiegen herunterzuklettern. Dass diese Aktion nicht besonders elegant zu absolvieren war, störte mich in diesem Moment nicht, aber sie scheiterte. Schon nach den ersten zwanzig Quietschgeräuschen 🙄 saß unsere 74 jährige quirlige Französin kerzengerade im Bett und hatte schon das untere Bett verlassen, noch ehe mein großer Fußzeh den Boden berührt hatte. Wir wuselten nun also gemeinsam so wenig laut als möglich (packt ihr im Dunkeln mal nen Rucksack) durch den Raum, während der Rest so tat, als würde er auch ohne das sonst so ohrenbetäubende Schnarchen noch recht tief schlafen. Nett 😁.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass unsere Französin etwas trieb. Ich hatte sie gestern kurz kennengelernt, nachdem Gerhard mir schon etwas über sie berichtet hatte. Er war ihr schon am ersten Tag begegnet. Trotz ihrer französischen Herkunft, sprach sie ununterbrochen Spanisch mit mir. Ich erklärte ihr geduldig ein bis fünf Mal, dass ich maximal noch etwas Französisch verstände, bei Spanisch aber raus bin. Interessierte sie nicht die Bohne. Sie startete meist mit zwei englischen Wörtern, da sie dieser Sprache jedoch nicht mächtig war, endete der Satz grundsätzlich spanisch und wurde dann mehrmals hektisch wiederholt. Dass ich die Logik dahinter nicht verstand, spielt für die nachfolgende Erzählung jedoch keine Rolle.

Ich konnte spüren, dass es ihr unangenehm war, dass ich so früh auf den Beinen war. Gerhard hatte mir zuvor berichtet, dass sie schon den Morgen davor recht früh losgezogen war, um eine der ersten Pilgerinnen an der nächsten Herberge zu sein. Nun lag die Vermutung nahe, dass sie partout nicht wollte, dass ich vor ihr loszog. Verrückt. Aber tatsächlich erhärtete sich der Verdacht, als sie mir hektisch einen löslichen Kaffee anbot, als ich schon gespornt an der Ausgangstür stand. Da ich Kaffee nicht abgeneigt war und mir persönlich es völlig wurscht war, wer von uns beiden zuerst das Haus verließ, lies ich mich gerne überreden. Ihre Rechnung ging leider dennoch nicht auf, denn 5 Minuten später stand ich als erste Verlassende der Herberge in der dunklen Morgenluft.

Erstaunlich frisch und fit lief ich los. Es war herrlich so alleine die noch schlafende Stadt zu verlassen und ich blieb ab und zu kurz für ein Foto stehen und atmete dabei tief die kühle Luft ein. Irgendwann ging es einen sehr steilen Anstieg hoch, in dem auch die Laternen fehlten und so zückte ich die Handy-Taschenlampe. Der Ausblick war ein Traum aber mit einem Foto kaum einzufangen. Plötzlich hörte ich das Geräusch klappernder Wanderstöcke und blickte mich um. Hinter mir keuchte die kleine Französin im Eiltempo den Anstieg hoch. Ich wollte heute definitiv keine Gesellschaft und so spurtete ich los, um etwas Abstand zu ihr zu gewinnen. Das gelang kurzfristig auch, nur wenn ich das Handy für ein Foto zücken wollte, holte diese unglaublich energiegeladenen kleine Person wieder auf. Ich war geplättet, denn der Weg war steinig und steil. Nachdem sie sich mir nun an die Fersen geheftet hatte, blieb mir keine andere Wahl, als eine Pause einzulegen, um sie vorbeiziehen zu lassen. Da kam aus einem Holzschuppen, der an ein Wohnhaus angrenzte, ein wuscheliger Welpe auf mich zugelaufen und 5 Sekunden später folgte die schwarz-weiße Mama. Perfekt! Ich war im Streichelmodus und „Franzis“ konnte mich munter überholen. Nein, konnte sie nicht. Sie blieb natürlich ebenfalls stehen und erklärte mir (Jup, ich habe sie verstanden), dass man aufpassen müsse. Denn wenn man hier Hunde streichelte, wäre es möglich, dass sie einem folgen. Jup! Gerne! Ich nehm‘ sie alle ☺️. Nach dieser Erklärung legte ich meinen Rucksack ab in der Hoffnung, sie würde nun weitergehen. Keine Chance! Sie legte in Seelenruhe ebenfalls ihren Rucksack ab und packte gemütlich ein belegtes Brötchen aus. Ich fasste es nicht! Da versuchte sie mich doch offensichtlich einzuholen und nun parkte sie hier neben mir. Schwups, setzte ich den Rucksack wieder auf und stapfte los.
Es vergingen nur wenige Minuten, da war das Klappern und Keuchen wieder zu hören und ich beschloss, die Challenge anzunehmen. So blendete ich sie aus und genoss die Landschaft und meinen Weg.

Dieses Foto hat dann übrigens „Franzis“ geschossen 😂

Es lief sich leicht und ich fühlte mich kraftvoll und auch ein wenig glücklich. In einem kleinen Ort stieß ich auf ein Café und beschloss meine erste Pause zu machen. Ich/wir waren inzwischen über 11 km gelaufen und ich hatte Lust auf einen richtigen café con leche. Franzis war inzwischen zurückgefallen und somit merkte sie mein Verschwinden nicht. Ehrlich,… Absicht war das nicht 😇. Aber es kam mir dennoch gelegen.

Im Café traf ich noch auf einen quirligen älteren Chinesen, welcher mir schon am Tag meines Ankommens und am darauffolgenden Tag aufgefallen war und da ich nicht weiß, ob er auf meiner Reise noch relevant wird, erwähne ich ihn mal. Warum sind so viele Pilger auf diesem Weg so unentspannt? Oder vielleicht ist das einfach das Klientel, das diese Berg- und Talfahrt läuft. Denn der Primitivo entpuppte sich als eine kleine Herausforderung. Dabei waren die Steigungen anfangs gar nicht mein Problem. Aber als die Mittagshitze immer stärker wurde, wurde auch der Ruf des Primitivos immer deutlicher. Es ist definitiv anders als an den Küstenwegen. Die Sonne brannte und heizte die Luft schwül auf, so dass mir nach einiger Zeit die Schweißtropfen von der Nase fielen. Immerhin ca. 1,55m tief.

Ich lief also alleine und traf nur noch einen älteren, humpelnden Polen und einen jungen wuseligen Mann an einer wunderschönen Wasserstelle, an der ich schnell meine Schuhe auszog, um meine leicht brennenden Füße ins eiskalte Nass zu tauchen. „Autsch“, aber anschließend lief ich erst wie ein Duracell-Häschen und dann wie der Roadrunner die Berge hoch. Naja,…fast.

Außer den erwähnten Pilgern ist mir niemand mehr begegnet. Aber so hatte ich‘s ja gewollt! Ich habe gehofft, mit diesem Weg Abschied nehmen zu können. Emotionalen Abschied von Dingen und Menschen, bei denen meine Gefühle und Gedanken nicht mehr angemessen sind. Und das meine ich nicht zynisch oder gar anklagend. Wenn man etwas beendet hat, muss man es loslassen können. Doch das ist lange nicht so leicht, wie man es anfänglich möglicherweise vermutet.
Ich habe nach 37 Jahren meinen Beruf als Tanzlehrerin beendet und damit auch alles abgegeben, was ich einst aufgebaut habe. Als ich damals aus Stuttgart zurück nach Achern kam, hatte ich 17 DM in der einen Hand und einen 6-jährigen Sohn an der anderen. Nicht ein Möbelstück, kein Auto, geschweige denn ein Handy und keine eigene Unterkunft. Übergangsweise kam ich in meinem Elternhaus unter. Und wer jetzt glaubt, ich wäre schon finanziell irgendwie unterstützt worden, der irrt leider gewaltig. Die ganze Geschichte wäre zu lang, um sie hier zu berichten, aber so fing alles an.
Und nun heißt es: Lass los! Und ich weiß, dass es richtig und gut für mich wäre. Aber es tut immer noch sehr weh. Das ist Fakt und ich finde diesen „fucking“ Schalter nicht. So laufe ich diesen Weg und sollte anfangen, ihn zu suchen. Doch so läuft das nicht! Meine Gedanken gehen andere Wege. Und das hat einen einfachen Grund: Konfrontation! Überall! Mit meinem „Lieblingsthema“ Alkohol. Natürlich triffst du diesen ,Freund‘ in jeder Bar, im Cafe, in den Herbergen und auf den Straßen. Du wirst gefragt, ob du etwas mit essen gehst und anschließend vielleicht noch ein Gläschen Wein mittrinkst. Ich kam heute in einer Herberge an, an dessen Tisch 5 Männer saßen. Ein mit Zähnen karg bestückter und braungebrannter junger Mann sah mich lächelnd an und meinte: „We are full“. Worauf ein anderer mich blöde angrinste und meine: „Do you understand Lady? We are full… not drunken!“ und sich dabei königlich amüsierte. Nun gehört dieser Witz tatsächlich nicht in die obere „Totlach-Liga“, aber ein schmales höfliches Lächeln könnte man sich möglicherweise erzwingen. Könnte! Mir war nicht danach und ich pfeife darauf, ob ihm mein trockener Blick dabei arrogant erschien.
Nun keine Angst! Ich habe lange überlegt, ob ich meine Gedanken dieser zweiten Etappe mit euch teilen soll. Aber das passt nicht in den Blog meines Jakobsweges. Nicht in der Intensität. Möglicherweise hole ich dies in meinem Alkoholblog nach, oder drehe dazu ein Video für YouTube. Sollte das passieren, stelle ich euch den Link in den anderen Blog.

Der Weg war die meiste Zeit ein absoluter Traum. Anstrengend? Definitiv! Steinige, matschige und sehr steile Aufstiege. Dazu die Schwüle, das geht schon an die Substanz.

Ich bin nach 34,8 km in einer sauberen Herberge mit einer freundlichen, nur Spanisch sprechenden Frau angekommen. Und bin hier die einzige Pilgerin! Eine ganze Herberge mit 16 Betten, nur für mich alleine. Schade bezüglich fehlender Kommunikation, aber auch schön, die Ruhe genießen zu können. Und morgen um 4:00 Uhr ( denn da will ich aufstehen) mach ich den größten Lärm, den jemals ein Pilger beim Zusammenpacken seiner Sachen gemacht hat! Und das mit voller Absicht 😇!!!