19.06.2021. Der Wecker klingelte um 6:15 Uhr und ich stellte erstaunt fest, dass ich von ca. 1:00 Uhr bis jetzt durchgeschlafen hatte. Direkt vor dem Hostel war die Kirche, die am Abend noch jede halbe Stunde einen ohrenbetäubenden Lärm gemacht hatte. Anscheinend wurde auf die Bekanntgabe der nächtlichen Uhrzeit über die große Kirchturmglocke, auf Rücksicht der ca. 380 schlafenden Einwohner des Ortes verzichtet. Gut ausgeruht rüstete ich mich für einen langen Tag und wollte maximal um 7:30 Uhr auf dem Camino sein. Als ich die Küche betrat, traf ich dort auf die einzige weitere Person, die die letzte Nacht hier verbracht hatte: Milena aus Saarbrücken! Von ihr hatte mir Sarina erzählt und mich gebeten, ihr bei einer eventuellen Begegnung einen Gruß auszurichten, was ich somit tat. Eigentlich wollte ich nur schnell einen Kaffee trinken und sofort losziehen, aber wir kamen ins Gespräch und so setzte ich mich noch zu ihr und ihrem Müsli. Sie gab mir einen Tip für die nächste Pilgerherberge, welche allerdings etwas über dem eigentlichen Ziel lag: Gernika-Lumo. Da sie aber noch zu buchen war und nur 18€ kostete, schlug ich zu! Dort würde ich dann auch später wieder auf Milena treffen. Ich startete um 8:00 Uhr. Der Weg lief sich gut und Max und Mimi wirkten auch fit. Nach wenigen Kilometern überholte ich ein erstes junges Pilgerpaar und wenige Minuten später das zweite. Zur Party von Fräulein Ehrgeiz gesellte sich spontan Herr Stolz. So konnte es weitergehen 😊!

In der Nacht hatte es geregnet und die frisch gereinigte Morgenluft tat gut und spornte mich an. Und auch, wenn die Bilder dies hier oft nicht wiederspiegelten, so waren Wege und Landschaft abwechslungsreich und man entdeckte immer wieder etwas, was ein Hochgefühl auslöste. Oft Kleinigkeiten, wie der Hirschkäfer oder ein nebliger Hexenwald.

Links unten seht ihr Treppen, welche durch den Wald nach unten führten. Ich habe natürlich gezählt😉: 272 waren es insgesamt.

Heute fiel mir erstmalig bewusst auf, dass „Zeit“ überhaupt keine Rolle mehr spielte. Natürlich hatte man die Etappen-Kilometer im Blick, jedoch war das Zeitgefühl verschwunden. Ich hätte nie sagen können, wie lange ich schon lief. Und ich hatte auch noch nicht einmal hinterfragt, warum ich das hier tat. Ich fühlte mich hier richtig! Und irgendwie frei. Frei von Dingen, die belasten. Auf dem Camino stellte sich mir nur eine Frage: wo ist der nächste gelbe Pfeil?

Gegen 12:30 wurde es unfassbar schwül und ich befand mich gerade auf einem unbeschattetem und steil nach oben führenden Weg.

Da ich außer einem Energieriegel noch nichts zu mir genommen hatte, sank zudem mein Kraftspiegel merklich. Ich musste immer öfter stehenbleiben und einen Schluck aus meiner Wasserflasche nehmen, in der der Pegel deutlich sank. Normalerweise befinden sich auf dem Camino viele Wasserstationen. Dennoch beschlich mich die leichte Angst, so schnell an keiner vorbeizukommen und ich fing an, meinen kostbaren Wasserrest aufzusparen. Ich wurde immer schlapper und zu allem Überfluss ging es nun seit einiger Zeit stetig bergab. Max meldete sich in immer kleiner werdenden Abständen, bis die Schmerzen ein gefühltes Höchstmaß angenommen hatten.

Beim Bild oben links konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen… die Spanier nahmen es wohl sehr ernst mit dem Corona-Sicherheitsabstand 😜😂.

Kurz vor Gernika (noch wenige Kilometer von Gernika-Lumo entfernt) überholten mich dann die beiden Paare vom Morgen wieder und fragten besorgt, ob man mir helfen könne. Ich verneinte und meinte, es wäre alles in Ordnung. Fräulein Ehrgeiz drehte die Musik aus und setzte sich maulend hin, während Herr Stolz ihr die Umstände erklärte. Und während der Ehrgeiz zwar verletzt war, so blieb der Stolz dennoch sitzen. Kurze Zeit später war der stechende Schmerz im linken Knie dann so stark, dass ich laut das Wort mit „Sch…“ in den Wald brüllte! Max war das peinlich, Mimi hielt sich raus, Fräulein Ehrgeiz meinte, dass hätte ruhig noch lauter sein dürfen und Herr Stolz beruhigte mich.

Ich gehe davon aus, dass außer der Tiere im Wald niemand meinen Wutausbruch wahrgenommen hatte. Und diese verstanden außer spanisch ja maximal noch baskisch 🤷🏻‍♀️.

Ich schaffte es dann doch irgendwie nach Gernika-Lumo zu kommen und suchte erst einmal nach einem Eroski (ähnlich wie Norma/Aldi etc.). Auf dem Weg dorthin, brüllte mir aus einer Bar einer der spanischen Pilger, welche ich kurz getroffen hatte, hinterher: „Hey, Germany“ und winkte mir einladend zu. Aber Germany hatte Hunger und keine Lust auf einen anstrengenden Plausch auf englisch. Ich winkte zurück, zeigte an, dass ich weiterwolle und ging meines Weges. Im Eroski kaufte ich mir einen Thunfischsalat, Baguette, Käse, Bananen und einen Apfel, neue Riegel, einen kalten Latte Macchiato und drei Dosen Radler. Eine davon trank ich auf der nächsten Parkbank gierig aus. Dort sitzend und essend, gesellte sich plötzlich Milena zu mir. Kurz darauf kamen Adrian und Eric (aus Mexico) dazu. Wir genossen alle die Auszeit und außer Eric gaben alle zu, heute ziemlich fertig zu sein. Die Etappe war deutlich härter ausgefallen, als vermutet.

Adrian und Eric zogen vor uns weiter. Ihre Herberge lag in etwa 1 3/4 Sunden Entfernung. Milena und meine in etwa 2 Stunden. Auch wir rafften uns auf und liefen gemeinsam weiter. Ich kam recht gut mit ihr mit (sie trug allerdings 13kg auf ihrem Rücken) und so wurde die gelaufene Zeit zwischendurch mit kurzen Gesprächen gefüllt (manchmal war es aufgrund der Anstrengung nicht möglich). Nach ca. 2 Stunden kamen wir an der Herberge vorbei, in der Eric und Adrian abgestiegen waren. Zu unserer Überraschung traf sich dort wohl alles, was zurzeit auf dem Camino unterwegs war: das französische und das englische junge Paar, die Asiatin mit ihrem schwulen Wegbegleiter (beide unfassbar liebe Menschen), einige der jungen Spanier, Sarina, Sophie und natürlich Eric und Adrian. Ich bedaure es sehr, kein Foto dieser bunten und gut gestimmten Truppe gemacht zu haben und hoffe, diese Möglichkeit nochmal zu bekommen. Einigte zelteten direkt vor der Herberge, andere hatten Zimmer genommen. Sie luden uns ein, ebenfalls hier Quartier zu beziehen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir unsere Unterkunft nicht stornieren konnten und wir außerdem nicht unglücklich waren, die morgige Tour damit etwas abzukürzen, lehnten wir ab und liefen weiter.

Der Rest des Weges war die Hölle! Steil bergab wollten die Schmerzen ihren unltimativen Höhepunkt erreichen. Ich bat Milena vorzulaufen, was sie auch gerne tat, da mein Tempo nichts mehr von wirklicher Fortbewegung hatte. Einige Minuten später erreichte ich dennoch glücklich die sehr saubere und ruhige Herberge. Milena und ich setzten uns etwas später frisch geduscht an einen Tisch, aßen eine Kleinigkeit und gönnten uns ein Radler. In unserem langen Gespräch stellten sich mehr Gemeinsamkeiten heraus, als ich vermutet hätte. Wir hatten beide schon beim „Free-Climbing“ in Finale Ligure an der Wand gehangen und auch sonst gab es einige Parallelen. Wir sprachen, wie langjährige Freundinnen über sehr private Dinge. Denn,… was auf dem Camino erzählt wird, das bleibt auf dem Camino ☝🏻😉!