Ein „Alien“ wirft Ballast ab!
Die lange letzte Etappe hatte leider wieder nächtliche Beinschmerzen hervorgerufen und somit stand ich erst um 7:00 Uhr auf. Ich ließ ein heißes Bad in die viel zu kurze Wanne und musste diese fast ganz voll laufen lassen, damit meine angewinkelten Beine bedeckt waren. Anschließend hängte ich die noch sehr nasse, gestern mit Hand ausgewaschene Wäsche ab und befestigte die feuchten Shirts und Socken außen am Rucksack. Der Rest kam in eine Plastiktüte und wird bei der nächsten Pause wohl wieder rausgeholt. Immer wieder, bis die Sachen annähernd trocken sind. Manchmal ziehe ich die noch klamme Wäsche an um diese so am Körper trocknen zu lassen. Aber dieses Mal waren die Sachen einfach noch zu nass. Fertig bepackt schaute ich in Schrank und Bad, ob ich meine „Schäfchen“ beisammen hatte und verließ das Zimmer. Draußen wartete wieder ein Kaffeeautomat. Nur diesmal kostete der Moccacino das doppelte (1€) und somit blieb es auch bei dem einen. Schlüssel in den Briefkasten, es war kurz vor 8:00 Uhr. Kaum lag er drin, fiel mir ein, dass beide Knieschoner heute Nacht in der Schublade verbracht hatten und dort noch friedlich schlummerten. Mist! Also hin zur Klingel und die Dame von gestern aus dem Bett befördern. Diese machte dann auch sehr verschlafen aber hektisch auf und entschuldigte sich für ihren Aufzug. Dabei hatte sie mir gestern mitgeteilt, dass sie nicht vor 9:00 Uhr aktiv wäre. So entschuldigten wir uns im abwechselnden Sekundentakt und ich holte Vergessenes schnell aus der Schublade, in die ich es besser gar nicht erst gelegt hätte. 8:03 Uhr und ich lief nun endlich vollständig los!

Das heute kein angenehmes Pilgerwetter werden würde, war schon sehr schnell zu spüren. Es wurde von Minute zu Minute wärmer und mein Rucksack quietschte bei jeder Bewegung über meinen schweiß-feuchten Rücken. Der Weg war jedoch wieder wunderschön! Ich liebte die „Baumtunnel“, die das Gefühl vermittelten, am anderen Ende beginne eine neue Welt. Man erwartete tatsächlich auch hier manchmal das gestresste Kaninchen mit der Taschenuhr, Onkel Remus mit seinen singenden Schmetterlingen (ein eher unbekannteres Märchen) oder Tinkerbell. Leider ist mir keiner von ihnen begegnet. Aber dafür spendeten diese Naturtunnel Schatten, was bei dieser unbarmherzigen Sonnenbestrahlung ebenso märchenhaft war 😉.

Ich lief und träumte. Heute war der anfängliche Weg hierfür perfekt! An einer Stelle blieb ich stehen und sah nach oben in die Baumkronen. In diesem Moment viel mir mein Traum der letzten Nacht ein: Ich lag mit meiner noch kleinen Tochter Kim (im Traum war sie ca. 7-8 Jahre alt) im Bett und wir starrten gemeinsam zur Decke. Sie hielt ein Stofftier in ihrer Hand und erzählte mir eine Geschichte. Wir lagen mit dem Rücken zur Tür und plötzlich drückte man mir und Kim ein Kissen auf das Gesicht. Ich bekam keine Luft und konnte nur an meine Tochter denken. Trotz des Kissens sah ich ihr Stofftier durch die Luft fliegen. Ich wachte auf und brauchte einige Minuten, um wieder atmen zu können. Ich bin kein Traumdeuter und würde wahrscheinlich den Wahrheitsgehalt dieser Deutung sowieso in Frage stellen. In diesem Moment unter diesen Bäumen musste ich spontan wieder an Dawid denken. Lass jetzt nur nicht die Steine in deine Beine! Ich schrieb meiner Tochter, dass ich heute mit ihr telefonieren möchte und packte die schlechten Gedanken erst einmal in einen „Safe“.

Ich ließ mich gerne von den schönen und amüsanten Dingen des Weges ablenken. Da gab es auf einer Anhöhe einen netten kleinen Rastplatz mit einem Hinweisschild, der auf einen Markt und den Erhalt eines Kaffees aufmerksam machte. Allerdings bezog sich dies wohl eher auf fliegende Kundschaft, da es direkt hinter der Wegesmauer steil bergab ging 😂.

Ein wenig später kam ich an einer Wandmalerei vorbei, die mir aus der Seele sprach: „ Alle Wege sind der Weg!“

Ich meine es war in San Petro, in der mir verschiedene weitere Wandmalereien auffielen. Die dreidimensionalen Zeichnungen täuschten den Betrachter mit fiktiven Durchgängen, aufgesetzten Fenstern und Stallungen, sowie durstig trinkenden Pilgern. Ich stand minutenlang davor und ließ diese Bilder auf mich wirken. In einer kleinen unbedeutenden Straße eines unbedeutenden kleinen Ortes hatte dieser Künstler seine Werke an alte heruntergekommene Häuser gemalt und mich damit fasziniert!

Ich war kaum 2 Stunden unterwegs und hatte schon so viel gesehen und gefühlt. Nun lief ich in Vega Richtung Strand, und die Sonne zeigte, dass sie auch um 10:00 Uhr schon mächtig Kraft haben konnte. Ich überlegte nicht lange, suchte mir einen ruhigen Platz und packte mein großes Handtuch in den Sand. Da nicht viele Strandbesucher anwesend waren, wechselte ich schnell meine Unterwäsche gegen den einzig vorhandenen Bikini und holte die noch nasse Wäsche aus der Tüte. Dann breitete ich diese und mich selbst auf dem Handtuch aus. Ich holte die Orange und ein Stück Käse heraus und begann mein etwas seltsames Frühstück. Dann chillte ich mit meiner Wäsche, bis diese trocken war. Und das dauerte exakt 2 Stunden 🥳!


Der Camino führte mich anschließend über Schlamm und Gestein. Manchmal blieb man stecken, ein anderes Mal schlitterte man über die Steine. Es war anspruchsvoll und schweißtreibend. Schon nach wenigen Minuten sehnte ich mich zurück an den kühlen Atlantik. Nach weiteren 5-6 Kilometern kam ich an eine Strandbar und holte mir dort ein Eis und dazu einen Kaffee. Ich mag mich täuschen, aber ich habe oft das Gefühl zwischen den anderen Urlaubern eine Art Alien zu sein. Manche rümpfen die Nase (was durchaus verständlich ist, da ich sicher nicht immer nach Veilchen dufte), einige versuchen dich wissend anzulächeln und man hört sie denken:,ich weiß, warum du das tust‘. Aber man erntet auch bewundernde und anerkennende Blicke. Am wenigsten mag ich den „Mitleidsblick“! Solltet ihr jemals einem humpelden oder sich schleppenden Pilger begegnen: Tut das nicht!!! Wir tun das nämlich freiwillig ☝🏻!


Ein Strand weiter war einiges mehr los. Ich war froh den ersten gewählt zu haben. Hier hätte ich mich wahrscheinlich gar nicht erst niedergelassen.



Grundsätzlich war diese Etappe für Kopf und Körper definitiv zu heiß, für die Seele und das Auge ein Traum und für meine Beine (welche ich heute eigentlich nicht erwähnen wollte 🙈) eine Katastrophe! Auf den letzten Kilometern kurz vor Colunga versagte mein rechtes Bein. Die Schmerzen waren tatsächlich unbeschreiblich und wollten auch partout nicht abklingen. Ich versuchte alle, in der Vergangenheit bewährten Tricks, doch nichts half. Aber ich musste es wenigstens in den Ort schaffen. Für die letzten 2 km benötigte ich eine gute Stunde. Ich ließ die ersten Hotels liegen, da diese mir in der App schon teurer angezeigt wurden, als ich heute zu zahlen bereit war. Im „Las Vegas“ (auf booking.com -55€/Nacht) fragte ich nach, und bekam das Zimmer für 35€. Ich schleppte mich in die erste Etage und „entbandagierte“ erst einmal meine Beine. Dann rieb ich beide ein und legte mich mit einem Handtuch aufs Bett. Nach wenigen Minuten waren die Schmerzen verschwunden und ich konnte auch gut wieder auftreten. Ich vermute, dass die heutige Hitze eine zusätzliche Belastung gewesen ist.
Dennoch werde ich mich zeitnah von überschüssigem Balast befreien! Und zwar in zweierlei Hinsicht. Seit Tagen denke ich über die Menschen nach, die mir in der Vergangenheit bewusst oder unbewusst geschadet haben. Menschen, die mir offensichtlich Antipathie entgegenbrachten. Grundlos oder nicht, beides ist mir nicht bekannt. Menschen, die mir Kraft geraubt haben. Ich werde Unnötiges aus meinem Rucksack ebenso entfernen, wie aus meinen Gedanken. Zumindest solange ich auf dem Camino bin. Ich werde baldmöglichst zur Post gehen und ein kleines Paket packen, in dem alle Dinge sind, die ich seit Tagen kaum genutzt mit mir herumschleppe. Und es wird ein Zettel darin liegen. Auf diesem stehen die Namen der Menschen, die ich aus meinen momentanen Gedanken entfernen möchte. Und all das schicke ich nach Hause. Wenn ich zurück bin, kann ich mir Gedanken darüber machen, ob ich diese Menschen mit meinen Fragen konfrontiere. Wenn mich die Antworten dann überhaupt noch interessieren!


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