Eine Menge ‚Shit’ macht aus Menschen Pilgrims
20.07.21 Die Nacht war kalt aber ich hatte dennoch ein wenig geschlafen und fühlte mich gut ausgeruht. Ich stand um 6:30 Uhr leise auf um Adelina nicht zu wecken, begab mich in den Küchenraum der Herberge und kochte das Ei, welches ich gestern vom Nachbarn ergattert hatte. Eine Stunde später stand Adelina auf und wir machten uns für den Camino bereit. Ich weiß nicht genau, wann wir starteten, da unsere Hauptsorge der fehlende Kaffee war und wir damit beschäftigt waren, uns hier gegenseitig zu bedauern. Adelina hat inzwischen den Platz des Lieblings- Caminomenschen nicht nur übernommen, sondern getoppt! Sie ist witzig, intelligent, stark und emotional zugleich. Wir können uns gemeinsam über diesen „Fuck- Camino without anything“ aufregen und in der nächsten Sekunde unsere Anwesenheit auf diesem feiern. Auf unseren ersten 7-8 Kilometern gab es tatsächlich nichts, nada, nothing. Einzig ein paar leerstehende, verwahrloste Anwesen mit einem Rudel streunender, offensichtlich hier lebender Hunde und manchmal ein paar Katzen.

Endlich kamen wir zu einer Bar, vor der sich auch schon andere Pilger niedergelassen hatten und freuten uns lautstark über unseren, aus unserer Sicht, nun redlich verdienten Kaffee. Die Bar und ihr Außenbereich füllte sich minütlich mit immer mehr Pilgrims.

Wenige Minuten später kam Judith forsch und total verdreckt angelaufen. Sie rannte gefühlt um ihr Leben und ich konnte sie nur mit der Frage stoppen, ob sie denn schon gefrühstückt habe. Sie verneinte, warf aber ein, dass ihr ein Rudel Pilger auf den Fersen wären und sie um ihren möglichen Herbergsplatz fürchtete. Wir beruhigten sie und forderten sie zu einer Tasse Kaffee auf. Sie zögerte nur kurz und gesellte sich dann zu uns. Ich fragte sie, was der Grund ihrer so starken Verschmutzung sei, denn der Weg heute konnte wahrlich kein Grund dafür sein und sie hatte gestern in meinem Beisein ihre komplette Wäsche gewaschen. Sie erzählte uns in ihrer hektisch verrückten Art, dass da ein Taxi mitten auf dem Camino unterwegs war und ein Pilgerpaar ausstieg. Sie wollte diesem folgen, bis sie plötzlich in „Shit“ stand und bemerkte, dass sie gar nicht mehr auf dem Camino war. Sie musste somit umkehren und durch weiteren „Shit“ zurück, um wieder auf den Camino zu gelangen. Uns kullerten die Tränen vor Lachen. Während wir gut gelaunt unseren Kaffee schlürften, kam ein weiteres Rudel ‚Bus- Pilgrims‘ an. Wir verstanden dieses merkwürdige Pilger- System nicht, welches irgendwie mehr einer Kaffeefahrt glich. Aber viel wichtiger war nun tatsächlich der Mangel an Unterkünften. So sputeten wir uns und zogen voller Elan und begleitet von Musik, die aus meiner Playlist johlte, an diesen bunt zusammengewürfelten und sehr sauberen ‚Bus-Camino- Gruppen‘ vorbei. Teilweise sagen wir mit, tanzten und hüpften ausgelassen die Wege hinunter oder lästerten über die „fucking new Pilgrims“ die nicht einmal nach Pilgern rochen. „You have to smell like shit, than you are a real pilgrim!“ ☝🏻


Wir kamen nach Sobrado und stellten fest, dass die Stadt mit Pilgern inzwischen überflutet war. Die scheinbar letzte Übernachtungs-Option war ein Apartment für 85€. Adelina war nicht so begeistert von dieser Möglichkeit und so klapperten wir noch eine weitere halbe Stunde alle Herbergen erfolglos ab, um dann doch das Apartment zu buchen. Als wir an der Rezeption zur Registrierung anstanden, kam Rudika, eine 65-jährige Rumänin, die wir schon einige Male getroffen hatten, herein und fragte nach einer Unterkunft. Rien ne va plus! So fragten wir nach, ob die Unterkunft auch zu viert nutzbar wäre und als dies möglich war, nahmen wir sie in unserer ,Funny Girlgroup‘ gerne auf und zahlten nun 25€/ Person. Das Apartment war really nice! Wir hatten zusätzlich eine Waschmaschine inklusive Waschmittel zur freien Verfügung, was später auch gnadenlos ausgenutzt wurde. Selbst Judiths „Shitshoes“ wanderten, allerdings im Alleinwaschgang, in die Trommel. Doch zuerst suchten wir den Supermarkt auf, kauften Käse, Jogurt, Bananen, Avocado, Brot, Bier und Rotwein für den Abend und Orangensaft, Kaffee und Kuchen für unser Frühstück. Rudika bestand darauf, uns in ein Restaurant einzuladen, da sie keine Lust hatte zu kochen. So saßen wir dann noch bei Polpo, Salat, Fisch, Fleisch und Kartoffeln zusammen auf einem schönen, allerdings von Pilgern überfüllten Platz, und ließen es uns auch hier schon mit Rotwein und Bier gutgehen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch keiner von uns geduscht, was speziell für Judith nun wirklich dringend nötig war. So ging es gut gefüllt und etwas müde zurück in unser Apartment. Nach einigen Minuten „Relax Time“ stand Rudika in einem sehr adretten Outfit vor uns und fragte, ob jemand mit zur Kirche kommen wollte. Diese sollte heute um 19:00 Uhr für Besucher geöffnet sein. Da keiner von uns wirklich ‚ready to go‘ war und die Zeit uns nicht drängte, lief sie ohne uns los. Adelina und Judith beschäftigte das Thema der raren Herbergsplätze und der steigenden Anzahl Pilger. Ich war recht entspannt, da keine Herberge Reservierungen annahm. Wir mussten nur vor den anderen Pilgern dort sein. Ich teilte dies mit und versprach, sie morgen rechtzeitig zu wecken. Wir wollten spätestens um 7:00 Uhr losziehen. Doch nun zog es uns erst einmal zur Kirche. Zur ‚Mosteiro de Santa María de Sobrado‘. Ein sehr beeindruckendes und auf seine Weise schönes Bauwerk. Dennoch hatte es auf mich eine eher respekteinflößende und bedrückende Wirkung.


Wir setzten uns anschließend mit Bier bewaffnet auf eine Steintreppe, lachten über den vergangenen Tag, sprachen über die plötzlich explodierte Pilgeranzahl und die damit verbundenen fehlenden Betten, unsere Idee notfalls auf der Straße zu schlafen oder bei wildfremden Menschen an die Tür zu klopfen. Plötzlich fragte Adelina, was wir tun, wenn wir wieder zu Hause sind. Ich hakte nach: „Du meinst, ob wir etwas an unserem Leben ändern?“ Sie nickte. Ich antwortete, dass es für mich erst einmal wichtig ist, nicht zu vergessen. Nicht wieder einem Trott zu verfallen. Und ja, ich wollte etwas ändern. Judith erzählte von ihrer Vorgehensweise. Sie wollte unterschiedliche Pläne, mit ebenso unterschiedlichen Wegesmöglichkeiten erstellen. So eine Art ABC Planung. Wenn A nicht funktionierte, dann vielleicht B. Adelina liefen plötzlich Tränen über das Gesicht und ich streichelte ihren Arm. Judith stand auf und drückte sie. Worte brauchte es nicht. Brauchte es eigentlich nie. „We are so fucking diffrent and feel so fucking similar“.
Im Apartment saßen wir am Abend noch kurz zusammen, aßen eine Kleinigkeit und köpften zu viert eine weitere Flasche Rotwein. Mehr nicht, denn morgen hieß es früh auf den Camino, um der Masse zuvorzukommen. Ich war diesbezüglich jetzt mal optimistisch.
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