Fahrgast im eigenen Körper
23.06.2021. Ich hatte, trotz des kaum isolierten Fensters (man hatte das Gefühl direkt neben der Straße zu liegen), wie ein Stein bis 7:30 Uhr geschlafen! Der gestrige Wind hatte meine Augen etwas entzündet, aber dafür waren die Schwellungen an den Beinen etwas zurückgegangen. Da die Kneipe frühestens am Nachmittag wieder öffnete, gab es natürlich kein Frühstück. So holte ich mein letztes Stück trockenes Körnerbaguette aus der Tasche und den ziemlich fettigen Käse. Das hatte dann auch einen gewissen Ausgleich 😉. Dazu trank ich etwas Wasser und hoffte, auf der Strecke zeitnah noch einen Kaffee zu bekommen (welcher mit 1,50€ in Spanien sehr günstig war). Ich zog unter die Trekkinghose meine kurze Sporthose, da es wohl auch heute frisch werden würde, und packte sogar mein Halstuch aus. Um 9:15 Uhr startete ich Richtung Bushaltestelle, um zurück nach Pobena zu kommen und von dort wieder auf den Camino. Ziel heute: Castro Urdiales! Nur ca. 23 km entfernt. Max und Mimi waren wieder stark verpackt (allerdings ohne Salbe 😉) und so zog ich los!

Die ersten 6 km waren ein Traum! Ich lief gefühlt wie ein Wiesel und es war zwar bewölkt und windig, aber trocken. Die Aussicht auf das Wasser, das Rauschen des Meeres, das Schreien der Möwen und das Geläute der Kuhglocken am Hang, war in Verbindung mit dem Duft des Wassers und des feuchten Grases mehr als perfekt. Wenn ich direkt die Klippen heruntersah und mich ganz weit nach vorne über das Geländer beugte, dann hatte ich das Gefühl, nun gleich losfliegen zu können.



Kurz bevor ich mich vom Antlantik wieder verabschieden musste, setzte ich mich beim „via verde del piquillo“ ins Gras, streckte meine Beine aus und aß erst einmal einen Kraftriegel.

Als ich weitermarschieren wollte, wurde ich Augenzeuge einer kuriosen Spielaufforderung eines Hundes an eine Herde Ziegen. Diese schienen allerdings für unnötige Faxen wenig Verständnis zu haben.
Ab jetzt meldete sich Mimikus wieder zu Wort. Jeder Schritt schmerzte. Zeitweise zog es vom seitlichen Knöchel bis zum Oberschenkel, als hätte man mir einen leichten Stromschlag versetzt. Die Abstiege konnte ich wieder nur rückwärts bewältigen, aber auch vorwärts kam ich nur schleppend voran. Der Regen hatte wieder eingesetzt, so dass Pausen aufgrund von fehlenden Überdachungen, auch nicht ratsam waren. Inzwischen hatte ich mich mit ‚der Wut‘ fest angefreundet. Sie verhalf mir zu neuer Energie! Ich öffnete wieder mein unteres Hosenbein, nahm den Knieschoner ab und wickelte ihn mir so fest um den Unterschenkel, dass ich das Gefühl hatte, ich würde das Blut stauen. Der Schoner rieb und drückte unangenehm an dieser Stelle, aber… ich konnte laufen ☝🏻! So humpelte ich sogar im Vorwärtsgang die Abstiege hinunter. Langsam gewöhnte ich mich an den unangenehmen Druck und konnte, trotz Regen, auch die Umgebung wieder etwas genießen.

Nach einer Weile setzte ein ganz merkwürdiges Gefühl ein. Ich würde es als einen „tranceähnlichen“ Zustand beschreiben. Es fühlt sich an, als ob dich das Innere noch weiter in die Körpermitte zieht und sich dort ausruht. Das mag sich verrückt anhören, aber ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll. Der Körper war nun nur noch Bewegungsmittel. Die Beine liefen (humpelten) völlig alleine weiter. Ich habe in dieser Zeit weder Fotos gemacht, noch irgendwie gedacht. Mir war bewusst, dass dieser Zustand anders war, aber er war auch so angenehm entspannend (geistig 🤷🏻♀️), dass ich nicht darüber nachdenken wollte. Mag sein, dass manch Leser nun vermutet, ich hätte doch noch an der Marihuana-Zigarette gezogen 😉. Diese „Trance“ brach ab,als mir in einem kleinen Ort eine Frau mit einem Baguette begegnete. Ich hatte Hunger! So ging ich in die dortige Metzgerei, welche auch Brot verkaufte und holte mir ein Riesenbrötchen. Als ich die Kirche fotografierte, trauerte ich dem angenehmen Zustand der letzten Stunden nach. Doch es sollte nicht lange dauern, da verfiel ich wieder in diesen „maschinell angetriebenen“ Schritt und meine Seele durfte wieder entspannen 🤷🏻♀️.

Oberhalb von Castro- Urdiales gab es mehrere Reihenhaus-Siedlungen. Die Umgebung erinnerte mich ein wenig an Ligurien. Dort hatte ich als Kind fast jede Sommerferien verbracht.

Ich suchte wie verrückt die Pilgerherberge. Die Straße war jedoch nicht zu finden und auch befragte Passanten zuckten nur die Schultern. Müde wendete ich mich an booking.com. Ein Hostel bot ein Zimmer für zwei Personen für 42€ an. Ich humpelte an die angegebene Adresse (holte mir davor in einem Supermarkt noch schnell Guacamole und Gummibärchen 😊) und fragte nach dem Zimmer. Die junge Frau wollte wissen, ob ich dies alleine nutzen würde und ich antwortete : „Yes, if you don‘t have a Partner for me?“ 🤷🏻♀️ Diesen hatte sie wohl nicht und so bekam ich das Zimmer für 35€. Immerhin!
Ich hatte heute 25 km zurückgelegt und dabei 2850 Kalorien verbraten, welche ich nun mit allem, was in den Magen passte, auszugleichen versuchte. Ob mir das gelungen ist, werde ich am Ende meines Weges sehen 😄. Laut meiner Camino-App habe ich 205,5 km hinter mir gelassen. Somit hatte ich das Viertel-Finale in 10 Tagen erreicht!
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