Nachdem Eloy mir gestern über Instagram die Nachricht hinterlassen hatte, dass nun alle am ,Beach’ wären, mit dem Zusatz „come on…“, rappelte ich mich tatsächlich noch auf, kaufte 2 Dosen Bier und etwas zu knabbern und spurtete los. Im wahrsten Sinne. Denn mir war tatsächlich nach Bewegung zumute und da der Fußweg laut Google Maps nur 12 Minuten betrug, konnte ich diesen auch joggend absolvieren. Als ich ankam waren die meisten schon da, tranken Cidre und packten ein recht umfangreiches Picknick aus. Durch das Laufen war mir natürlich warm geworden und so zog ich gleich meine Sachen aus und lief Richtung Wasser. Der Boden war schlammig und so sank ich tief ein. Mariam und Adelina beschlossen, mir beim Bade lieber zuzusehen und meinen Mut, dem kalten Wasser zu trotzen, laut zu kommentieren und zu beklatschen. Anschließend saßen wir zusammen, tranken Bier und Cidre und aßen, was uns aus der vielfältig zusammengewürfelten Auswahl anlachte. Es wurde getanzt, gesungen und viel gelacht. Ich freute mich heute über diesen weiteren Murmeltiertag, dem ich doch eigentlich schon entfliehen wollte. Um 23:00 Uhr endete unser Abend, wir packten zusammen und ich verabschiedete mich ein weiteres Mal von Eloy. Er drückte mich und sagte: „Beende den Weg mit der Kraft und der Power, die in dir steckt“. Und ich antwortete: „Das werde ich“. Er wird sicher immer einer meiner Camino-Lieblingsmenschen bleiben, auch wenn wir gegen Ende den engen Kontakt nicht mehr hatten.

In der letzten Nacht plagten mich Alpträume. Ich hatte im gestrigen Cafe auf einem außen angebrachten Fernsehbildschirm die Bilder aus Deutschland gesehen und anschließend über meine Zeitungs-App die Berichte gelesen. Dies in Kombination mit den Gedanken über meine Zukunft, hat dann wohl zu den unschönen Drehbüchern in meinem Kopf geführt. Der Wecker wusste nichts von meiner unruhigen Nacht und klingelte erbarmungslos um 6:00 Uhr, was ich mit einem ebenso erbarmungslosen Drücken der Stoptaste quitierte. Körperlich hätte ich das Verlassen des Bettes zwar bewältigen können, aber die Psyche streikte. So blieb ich mit offenen Augen liegen und versuchte, mit positiven Gedanken die nötige Energie zu aktivieren. Eine gute Stunde später stand ich unter der Dusche und löschte den restlichen Pessimismus mit kaltem Wasser. Ich kam um 8:08 Uhr los und hatte wieder genügend Kraft in den Beinen, um an das Tempo des Vortages anzuknüpfen. Allerdings hatte mich heute morgen für einen kurzen Moment wieder mein Zahn geplagt, was ich als Zeichen hätte deuten können, den Schmerz jedoch einfach mit Teebaumöl eindämmte. So lief ich los und merkte recht bald den Unterschied auf dem Camino, zu den Tagen zuvor. Es zeigte sich langsam, dass der Weg sich füllen würde. Mit Neuankömmlingen, -Greenhorns! Ja, ich fühlte einen gewissen ‚Besitzanspruch‘ an MEINEM, oder maximal noch UNSEREM (bezogen auf meine Caminogruppe) Weg. Wie zu Schulzeiten, wenn die älteren Schüler der Mittelstufe plötzlich UNSEREN Raucherhof betraten.

Um den ‚Camino- Erstklässlern‘ zu zeigen, wie der ‚Hase läuft‘, habe ich alle mit Vollgas und-energie erst einmal überholt. Wäre ja noch schöner, wenn ich denen hinterherdackeln würde! Dennoch wurden natürlich alle mit einem dominanten „buen camino“ begrüßt. Das Camino- Vorrecht schließt Höflichkeit ja nicht aus. Ich absolvierte also den ersten Teil der Etappe mit dem nötigen Auftreten eines Oberstufen- Pilgrims und schritt mit stolz erhobenem Haupt schnell und groß aus.

Der Tag hatte mich heute morgen nebelig und frisch begrüßt. Nun spürte man von Minute zu Minute die Wärme des Inlands und es war zu erwarten, dass sich dies noch steigern würde. Ich kam wieder einmal an einem bellenden, angeleinten und sehr großen Hund vorbei, der augenblicklich verstummte als ich ihn sprach, und über seine Körperhaltung eher Unterwürfigkeit signalisierte. Er hob eine Vorderpfote auffordernd an und wollte offensichtlich gestreichelt werden. Seine Augen waren entzündet und als ich nach seiner erhobenen Pfote griff, sah er mich hoffnungsvoll an. Mir blutete das Herz. Ich kraulte ihn am Kopf und er schloss genießend seine Augen. Ich verweilte bestimmt 5-10 Minuten bei ihm und konnte mich aufgrund seines traurigen Blickes kaum lösen. Als ich ihn dann doch verließ, konnte ich ein bis zwei Tränen nicht unterdrücken. Ich hoffte sehr, dass ihm noch viele Pilgrims ein wenig Aufmerksamkeit und Streicheleinheiten schenken würden und sich nicht von seinem Äußeren davon abschrecken ließen.

Einige Zeit später traf ich ein junges deutsches Paar aus Augsburg, die mich bei meiner kleinen Pause auf der Erde sitzend erreichten. Sie hielten kurz inne und wir betrieben ein wenig Smalltalk. Auch sie sprachen das Problem der fehlenden Herbergen auf den nächsten Etappen an. Wir hatten nur noch die letzten 100 km vor uns, und es war zu erwarten, dass bis Santiago die Übernachtungsmöglichkeiten aufgrund der steigenden Anzahl Pilger, rar werden würden. Ich hatte für heute noch keinen Schlafplatz und hoffte, dass mir mein stets früher Start am Morgen hier Vorteile verschaffen würde.

Im letzte Drittel der Etappe meldete sich Mimikus mit noch leichtem Murren und ich drosselte sofort mein Tempo. Es meldete sich sofort mein schlechtes Gewissen, da ich gestern, wenn auch nur kurz, fröhlich rennend unterwegs war, und heute aufgrund meines unangebrachten Hochmuts, ziemlich Vollgas gegeben hatte.

Ich schaffte es trotz Hitze und der leichten Beinschmerzen mein Ziel Baamonde, um 12:20 Uhr zu erreichen. Die erste Herberge ( 94 Schlafplätze außerhalb der Pandemie☝🏻) öffnete erst um 13:00 Uhr. Somit standen meine Chancen gut und ich ging im Cafe nebenan einen ,cafe von leche‘ trinken und ein Eis essen. Ich war kurz vor 13:00 Uhr wieder vor Ort und der Vorraum stand schon voll mit schwitzenden jungen Pilgern. Ich bekam ein Bett im gemeinsamen Schlafsaal und wieder ein Säckchen mit der Bettwäsche, die in diesen ,Aubergen‘ üblich ist und bei denen man aufpassen musste, dass sie beim Beziehen nicht rissen. Nach dem duschen packte ich meine gesamte Wäsche in die anwesende Waschmaschine, setzte mich in der schönen Außenanlage an einen Tisch und aß das Übliche: bread with cheese 🤷🏻‍♀️ und zum Nachtisch einen Apfel. Eine gute Stunde später traf Adelina ein und erst um 19:00 Uhr folgten Mariam und ‚Korke‘. Mariam, Adelina und ich saßen anschließend noch bis 23:00 Uhr vor der Herberge und tauschten Camino- Gefühle aus. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass es Menschen gab, die diesen Weg ebenso erlebten, wie man selbst. Dass der Wechsel zwischen tiefer Traurigkeit und extremen Glücksmomenten uns alle betraf. Ich hatte im Herzen schon einen Tag zuvor eine Entscheidung getroffen, die sich auch heute noch gut und richtig anfühlte: Ich würde meinen Weg voraussichtlich nicht in Santiago beenden!