Ich ging aufgrund der Gespräche mit Dawid grübelnd ins Bett. Es war ziemlich frisch und ich beschloss mit Socken und Fleecejacke zu schlafen. Das Hostel war sehr hellhörig und so konnte ich den spanischen Gesprächen des Pärchens im Nachbarzimmer zwar deutlich lauschen, doch aufgrund der mangelnden Sprachkenntnisse nicht verstehen. Was sicher besser war, denn so konzentrierte ich mich auf den Eintrag meines Blogs. Als ich um 23:30 Uhr endlich beschloss das Licht zu löschen, kamen zeitgleich die Nachbarn auf die Idee, den späten Abend mit ein wenig Spaß ausklingen zu lassen. Ich gönnte ihnen dies von Herzen, doch mangels Oropax wurde ich nun unfreiwilliger Zeuge ihres Liebesspiels, was das Einschlafen nicht unbedingt förderte. Eine halbe Stunde später war im Nebenraum entspannte Ruhe eingekehrt, dennoch lag ich weiterhin mit kreisenden Gedanken im Bett. Gegen 2:00 Uhr beschloss ich, den Wecker von 6:00 Uhr auf 7:15 Uhr zu stellen. Um 8:30 wollte ich spätestens los. Ich lief rechtzeitig fertig gespornt die Treppe zur Rezeption hinunter und fand dort niemanden vor. An der Scheibe hing ein Zettel, dass diese erst um 9:00 Uhr öffnen würde und man den Schlüssel bitte durch die Öffnung unterhalb des Fensters durchschieben solle. Leider war es so dunkel, dass mir nicht auffiel, dass das Brett dahinter nur sehr schmal war und somit fiel der Schlüssel, inklusive der eingepackten Fernbedinung des nicht genutzten Fernsehers, auf der anderen Seite zu Boden. Ich hoffte, dass diese keinen Schaden erlitten hatte und wand mich zur Ausgangstür. Diese war verschlossen! Somit stand ich gefangen im kleinen Vorraum der Rezeption! An meinen Schlüssel war definitiv kein Herankommen möglich! Neben mir befand sich ein Kaffeeautomat in der selben Situation und wir freundeten uns erst einmal mit einem Moccacino an 😉.

Ich würde ja nun voraussichtlich eine halbe Stunde Zeit haben, bis ich das Hostel verlassen könnte. Einen weiteren Moccacino später kam eine Spanierin mit ihrer kleinen Tochter die Treppe herunter und befreite mich aus meiner pilgerunfreundlichen Gefangenschaft. Der Kaffeeautomat hatte allerdings noch einige Zeit abzusitzen und blieb. Wieder war ich fasziniert von dieser beeindruckenden Mittelalter- Stadt: Santillana del Mar! Ich hatte auch kurz darüber nachgedacht einen weiteren Tag hier zu verweilen, mich aber aufgrund des Wetters dagegen entschieden. Heute war es wieder bewölkt, windig und es sah auch nach Regen aus. Ideales Pilgerwetter! Am morgigen Tag brachten sie sonnig und heiß. Ich beschloss heute in einem möglichst strandnahen Ort mein Quartier zu beziehen und dann morgen einen sonnigen Ruhetag einzulegen. Wo das allerdings sein würde, blieb auch an diesem Morgen noch offen. Ich zog somit mit Moccacino gefüllt los und hoffte, später auf dem Weg irgendwo noch eine Frühstücksmöglichkeit zu finden. In den Straßen verteilte ein „Baguette-Service“ das weiße Stangenbrot, indem es die gewünschte Ware in Tüten außen an die Türen hängte. Ich war kurz davor den Fahrer zu fragen, ob er eines für mich übrig hätte, aber er schaute so morgenmuffelig, dass ich die Befürchung hatte, er würde mich mit seinem Stangenbrot eher aus der Stadt treiben. Ich wollte gerade in eine „Camino del Norte“ gekennzeichnete Straße einbiegen, als mir aus dieser ein bekanntes Pilgergesicht entgegenlief. Ich hatte diese Frau vor Tagen in Santon(j)a getroffen und nur kurz gegrüßt. Sie sah sich suchend und etwas verloren um, und ich fragte, ob ich ihr helfen könne. Sie suchte allerdings eine Frühstücksmöglichkeit und den waghalsigen Tip mit dem grummeligen Baguette- Auslieferer wollte ich ihr lieber nicht anbieten. Sie war übrigens eine holländische Holländerin 😊! So suchte sie ohne meine Hilfe weiter und ich machte mich ebenso hungrig auf meinen Weg.

Während ich nun auf diesem groben Straßenpflaster Richtung Westen lief, hätte es mich nicht gewundert einer Frau im langen Gewand oder einem Ritter zu begegnen. Ich traf allerdings nur ein paar Kühe, die gerade ihren Hunger stillten und mich an meinen leeren Magen erinnerten. Außer einem kleinen Käserest befand sich leider nichts Eßbares mehr in meinem Rucksack.

Meine Wegeswahl hatte diesmal die gelben Pfeile getroffen. Ich hatte kein Ziel und war somit wieder sehr entspannt. Der Camino führte mich über wunderschöne Wege und durch grüne Landschaften. Als ich auf eine Herde Kühe zulief, wurde ich offensichtlich von allen erwartet. Sie blickten und muhten mir erwartungsvoll entgegen, jedoch bezweifelte ich, alle mit meinem Käserest zufriedenstellen zu können, und so probierte ich es erst gar nicht. Allerdings vermittelte mir mein tatenloses Vorbeigehen ein wenig ein schlechtes Gewissen. Allerdings nur solange, bis ich bemerkte, dass die Aufmerksamkeit, die sie mir entgegengebracht hatten, nur der Tatsache zugrunde lag, dass ich aus der Richtung kam, aus der sie jemanden erwarteten. Nur eben nicht mich 🤷🏻‍♀️. Denn als ich weiterlief, veränderte nicht eines dieser Tiere seine räumliche Aufmerksamkeit. Ihr Blick und ihr aufforderndes Muhen ging weiterhin gen Osten 😄.

Das Bandagieren meiner Beine hatte inzwischen Wunder bewirkt und von der „Pilgerkrätze“ war kaum noch etwas zu erkennen. Am heutigen Morgen hatte ich zwar beide Beine wieder fest umwickelt, diesmal aber auf die Knieschoner verzichtet. Es lief sich deutlich besser und motivierte zu größeren Schritten. Diese benötigte ich auch, da der Hunger sich immer deutlicher bemerkbar machte. Ich kam erstmalig an einer Herde frisch geschorener Alpakas vorbei, die friedlich grasten und sich auch durch das Grummeln meines Magens nicht stören ließen. In Oren(j)a fand ich dann schließlich eine Bar, bestellte „Cafe‘ con leche, zumo de naranja und ein Stück dieses pappsüßen spanischen Kuchens. Viel mehr Auswahl gab es auch nicht.

Ich pilgerte gut gefüttert weiter und fing an mir über mein „Muschel- Vorhaben“ Gedanken zu machen. Ich hatte noch nicht eine mit einer Eigenschaft von mir „gefüllt“ und befürchtete 7 Dinge, die ich an mir liebte, gar nicht finden zu können 😕. Es gab keine Eigenschaft an mir ohne Einschränkung. Ich musste an einen mir bekannten Diplom- Psychologen denken, der mal zu mir sagte: „Gehen sie nicht zu hart mich sich ins Gericht. Lassen sie ihre vermeintlichen und ihre realen Schwächen auch mal zu!“ Aber reichte eine unvollständige Eigenschaft denn aus? Wenn jemand von sich behauptete, er sei großzügig, ist er dies dann IMMER? Ich tue mich schwer damit. Und so bleiben meine Muscheln erst einmal noch leer!

An der Sankt Peter‘s Church in Cobreces traf ich wieder auf die Holländerin und wir liefen bis kurz vor Comillas zusammen. Sie war mit ihrer 21 – jährigen Tochter von Irun nach Bilbao gelaufen und ihre Tochter hatte dann dort 2-3 Surftage verbracht, während sie sich auf den Weg nach Santiago gemacht hatte. Wir unterhielten uns trotz der Sprachbarriere sehr gut und ich hatte den Eindruck in Spanien meine Englischkenntnisse deutlich verbessert zu haben 😉. Es war auch hier kurzweilig und wir liefen gleichmäßig nebeneinander her. Kurz vor Comillas kam ein Rastplatz und sie wollte hier kurz verschnaufen. Da ich noch nirgends eine Unterkunft gebucht hatte und mich noch fit fühlte, beschloss ich noch bis San Vincente de la Barquera zu laufen und wir trennten uns, da sie ein (Luxus)- Hotel in Comillas gebucht hatte. Mit Pool ☝🏻! Ich gönnte es ihr, hatte aber selbst kein Bedürfnis danach.

Manch Einheimischer hatte sich einen parkähnliche Garten angelegt.

In Comillas kaufte ich mir ein fettiges Thunfisch-Sandwich mit Mayonaise (würde ich in Deutschland nicht mal eines Blickes würdigen 😄) und schaute nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ich fand für 30€ etwas Passendes und buchte. Es war 15:30 Uhr und bis zum Zielort nun noch ca. 2,5 Stunden Fußmarsch. Ich lief um 16:00 Uhr gestärkt los und hatte nach einer guten Stunde gefühlt keine Kraft mehr in den Knochen. Dennoch schleppte ich mich nun notgedrungen den unendlich lang wirkenden Weg bis nach San Vincente.

Mehrere kurze Pausen und ein kurzes Treffen mit einer italienischen Pilgerin später, lief ich auf die Brücke zu, die direkt nach San Vincente de la Barquera hineinführte. Links die Aussicht über die Berge, rechts ein fantastisches Panorama der Stadt.

Stadt-Eingang über eine Brücke nach San Vincente.

Laut Google-Maps befand sich mein Hostel direkt am Ortseingang und ich kreiste gute 10 Minuten um den angegebenen roten Zielpunkt. Ein einheimisches Pärchen wurde schließlich von mir um Hilfe gebeten und der ältere Herr erklärte mir (auf spanisch 🙈) den Weg, und dass es sicher noch 2 km zu laufen wären. Ich war inzwischen müde und abgeschlagen und der Gedanke an weitere 2 km bergauf packten mir Dawids erwähnte „Steine“ in die Füße. Um 19:00 erreichte ich endlich mein Ziel. Ein sehr schönes Hostel mit ebenso nettem Personal empfing mich. Morgen entscheide ich, ob ich eine weitere Nacht bleibe. Jetzt fallen mir, nach 34 km Tagesmarsch, erst einmal die Augen zu 😴…

Der Zielpunkt von Google-Maps deutete genau auf dieses Mehrfamilienhaus 🤷🏻‍♀️…