20.06.2021. Mein Wecker sollte um 6:15 Uhr klingeln, aber ich erwachte zuvor und stellte ihn aus, um Milena nicht zu wecken. Die Nacht war durchbrochen gewesen durch die Schmerzen in den Beinen, welche mich immer wieder weckten und dann schlecht wieder einschlafen ließen. Immerhin hatten wir am gestrigen Tag gut 30km zurückgelegt☝🏻! Physisch fühlte ich mich ansonsten dennoch fit. Allerdings gab es heute zum Frühstück zusätzlich 1,5 Schmerztabletten.

Ich hatte am Abend zuvor nachgefragt, ob eine weitere Nacht eventuell möglich wäre, um mich auszukurieren. Doch mir wurde von der Herbergenmutter mitgeteilt, sie hätte am Sonntag geschlossen und die nächste Herberge fände sich erst in Bilbao wieder. So blieb mir keine Wahl als loszuziehen. Ich ging eine halbe Stunde vor Milena los, da ich sicherlich länger brauchen würde, um in Bilbao anzukommen. Inzwischen traf man ständig auf Pilger. Manche kannte man schon, manche hatte man vielleicht einmal gesehen und nur wenige waren ganz neu. Unterwegs sprach mich ein spanisch aussehender Pilger auf englisch an und meinte, er würde mich kennen. Und zwar aus dem Hostel „Blai Blai“ in Zarautz. Ich konnte mich leider nicht an ihn erinnern und entschuldigte dies mit der Bemerkung, dass mein altes Hirn wohl nicht mehr so gut funktioniere 🙈. Er fragte noch, ob ich ebenfalls nach Bilbao wollte und dass wir uns dort dann sicher treffen würden. Bei einer Großstadt wie Bilbao fand ich diese Annahme zwar sehr interessant, kommentierte sie jedoch nicht. Er legte einen Zahn zu und ich versuchte nicht mitzuhalten. Mein heutiges Ziel war: langsam, kniefreundlich und mit vielen Pausen nach Bilbao zu kommen😊!

Tatsächlich traf man in längeren oder kürzeren Abständen immer wieder auf ein bekanntes Gesicht. Unter anderem einen jungen Spanier, welcher mich am 3 Tag mit vielen weiteren und Adrian, stramm und lustig plaudernd überholt hatte. Er wirkte nicht annähernd mehr so aktiv, wie an diesem Tag. Im Gegensatz zu mir, schien er es bergauf deutlich schwerer zu haben. Und so kam es, dass wir uns an diesem Vormittag gute 5-6 mal gegenseitig überholten. Ich ihn bergauf, er mich bergab 🤷🏻‍♀️. Beim letzten Überholvorgang seinerseits, hielt er meine abgetrennten und sehr schmutzigen Hosenbeine in der Hand: „Is it yours?“ Bei dem Anblick hätte ich lieber nein gesagt, aber ich benötigte die Teile ja noch. Also nahm ich sie dankend entgegen. Ich hatte sie außerhalb meines Rucksacks zwischen die Seitengurte geklemmt und da mussten sie wohl herausgerutscht sein.

Speziell als ich bei einem weiteren steilen Abstieg neue Lauf- Techniken ausprobierte, holten mich natürlich viele ein. Der noch namenlose Gefährte der Asiatin schlug vor, ich sollte im Zickzack nach unten laufen, da das deutlich knieschonender wäre. Ich dankte für den Tip und probierte es sogleich aus. Allerdings kam man so schlängelnd auch nicht besonders schnell vom Fleck und hatte außerdem deutlich mehr Schritte zu bewältigen. Rückwärts kam ich relativ gut voran, sah aber natürlich nicht wohin ich lief. Bei gut asphaltierten Straßen (hätte nicht gedacht, dass diese doch mal nützlich sein könnten), war das kein Problem. Ich orientierte mich ganz einfach am Straßenrand und kam wunderbar rückwärts vorwärts 😉. Ich entschloss den „Reverse Movie- Move“ und den „Snake- Move“ abwechselnd, je nach Gegebenheit zu praktizieren. Als ich rückwärts an einer Weide vorbeikam, starrte mir eine Kuh ungläubig hinterher. Ich blieb kurz stehen und fragte laut: „findest Du, dass ich dabei komisch aussehe?“ Die Kuh schnaubte und nickte dabei. Lachend lief ich dennoch rückwärts weiter.

Ich kam glücklich um 10:20 Uhr an einem schönen Rastplatz an und machte es mir mit einer Banane gemütlich. Eine Möglichkeit gefunden zu haben, zwar völlig albern aber fast schmerzfrei einen steilen Abhang hinunterzukommen, hatte Glücksgefühle in mir freigesetzt, die Adrian, der zu mir stieß, auch sofort durch meine gute Laune zu spüren bekam. Ich schloss mich ihm ein Weilchen an und er erzählte, dass seine Gemütslage nicht gerade auf dem Höhepunkt sei. Erstens plagte ihn eine neue Blase und zweitens hatten sie am gestrigen Abend 7 Flaschen Wein geleert. Sein Kopf war zwar nicht sehr stark belastet, aber die Müdigkeit machte ihn träge. Er erzählte außerdem, dass er Rettungssanitäter sei und er nach dem Camino mit dem Medizinstudium beginnen wollte. Nur in welche Richtung es ihn dort führen würde, war ihm noch unklar. Da Max und Mimi auch mit dem müden Zukunftsmediziner nicht mehr schritthalten wollten, blieb ich stehen, machte einige Fotos und trank ein Schluck Wasser. Mehr war auf dem Camino nicht nötig, wenn man wieder alleine weiter wollte.

Links mein erster Rastplatz, auf dem mich Adrian aufgabelte.

Ich kam durch wirklich schöne Orte mit sehr schmucken Häuschen. Aus vielen Gebäuden drang Gesang; mal mehr, mal weniger melodisch, aber immer aufheiternd. Einmal gab es sogar ein Open-Air-Konzert mit „Quetschkomoden-Musik“. Es war gerade der 7 Camino-Tag und man freute sich über banale Kleinigkeiten: eine kühle Coke, eine Dusche (egal ob warm oder kalt), ein „buen camino“ von Einheimischen (was im Übrigen nicht oft vorkam☝🏻) oder eben schrägen Gesang 🤷🏻‍♀️. Doch gerade diese Einfachheit lässt mich seit Monaten endlich wieder atmen!

Ich überquerte die Autobahn, die sich wie zwei Boa Constrictors durch die Landschaft schlängelte. Nun ging es nur noch über einen „Hügel“ und ich war in Bilbao. Der aufsteigende Waldweg war frisch und angenehm. Aber mir war klar, dass es anschließend wieder bergab gehen musste.

Auf dem letzten Stück fanden sich zudem einige merkwürdige Gegenstände, die ich Euch bildlich festgehalten habe. Für die Erklärung des ein oder anderen sind bei Minderjährigen grundsätzlich die Erziehungsberechtigten zuständig ☝🏻.

Ich befürchte, ich werde einigen Spaniern als die „Reverse-Movie-Peregrino“ in Erinnerung bleiben 😂. Um 16:12 Uhr erreichte ich das „All Iron Hostel“ am Eingang von Bilbao. 22km, viele Pausen und ein gutes Fünftel davon rückwärts-laufend später. Hier hatte ich unterwegs zwei Übernachtungen für 29€ gebucht! Der junge Spanier im Hostel wies mich in alles ein und überraschte mich mit der Information, dass ich meine gesamte Wäsche für nur 5€ bei ihm waschen und trocknen lassen könnte. Ich müsste diese nur in einen Wäschesack tun und bekäme dann alles fertig zurück. In diesem Moment entfuhr mir ein: „I love you!“ Er schaute mich mit großen Augen an und auch alle weiteren Anwesenden hoben grinsend den Blick. Ich zuckte nur lachend mit den Schultern. Mir war in diesem Moment egal, was gedacht wurde. Ich bekam heute meine Wäsche gewaschen 💪🏼😊! Und morgen würde ich ganz entspannt im frischen Outfit Bilbao erkunden.