21.07.21. Das Bett im Apartment war ca. 1,20m breit und außer der quietschenden Nebengeräusche, wenn ich versuchte mich zu drehen, eigentlich sehr komfortabel. Die Spanier hatten jedoch die Gabe, die Bettdecken so fest mit der Matratze zu verbinden, dass ein Bewegungsdrang gar nicht ausgelebt werden konnte. Ich fühlte mich wie der Inhalt einer Pizza Calzone. In Rückenlage war ein natürliches Anwinkeln der Füße nicht möglich, und so lag ich in meiner Lieblingsposition, wie eine Ballerina auf Spitzenschuhen unter dieser fest angespannten Decke. Um 5:30 Uhr klingelte der Wecker und ich richtete sowohl mich, als auch das Frühstück für uns Mädels. Wir freuten uns alle, bis auf Rudika, da sie um diese Zeit nichts essen und trinken wollte, wie verrückt über den Kaffee, den wir hier zubereiten konnten. Als wir gemeinsam starteten, war es noch dunkel und, wie jeden Morgen, frisch und nebelig. Wir gingen forschen Schrittes voran und waren zuversichtlich im nächsten Ort einen Schlafplatz zu finden, da außer uns kein Pilger zu sehen war. Nach einer Weile blieb Rudika, die mit unserem Schritt nicht mithalten konnte, zurück und forderte uns auf, nicht auf sie zu warten. Sie hatte für die kommenden Tage ja schon alles vorgebucht.

Es lief sich leicht mit den beiden Mädels. Wir waren das perfekte Team. Wir lachten gemeinsam, schwiegen gemeinsam und hatten immer zur gleichen Zeit Lust auf einen Kaffee. In ca. 10 km passierten wir eine Herberge, die wir am Vortag in Erwägung gezogen hatten, und heraus maschierten der deutsche Marcel mit dem kolumbianischen Andreas und… dem jungen Hund aus der vorherigen, inzwischen über 30 km entfernten Unterkunft. Das Tier war ihnen gefolgt und hatte offensichtlich einen Narren an Marcel gefressen, welcher eine Adoption in Erwägung zog, sollte in der Tierklinik in Arzua kein Eigentümer aufgrund eines Chips festgestellt werden. Was auf dem Camino erzählt wird, bleibt nach wie vor auf dem Camino. So auch Marcels traurige Geschichte. Dennoch kann ich sagen, dass sich hier zwei sehr einsame Lebewesen gefunden haben und ich von ganzem Herzen hoffte, diese Geschichte würde für die beiden ein Happy End finden. Mir zog sich das Herz zusammen, bei dem Gedanken, dass sie sich wieder trennen müssten, da der Anblick herzzereißend war. Marcel hatte dem Hund den Namen ,Santiago Kamikaze‘ verpasst und nun hörte man von allen Seiten aus der Gruppe, diesen Namen über den Camino schallen.

Wir erreichten gut gelaunt und hoffnungsvoll um 11:00 Uhr Arzua. Doch beim Betreten der Stadt stockte uns der Atem. Der Ort war überschwemmt von Pilgrims. Sie liefen suchend durch die Gassen, oder saßen in Massen abwartend vor den noch geschlossenen Herbergen. Ich hatte Adelina die Worte ‚shit‘ und ‚fuck‘ nun schon oft sagen hören, aber ab diesem Moment gehörte mindestens eines dieser Worte in jeden, von ihr gesprochenen Satz: „Shit! Who the fuck, are this fucking pilgrims?“ Wir waren sprach- und ratlos. Erst spät am Abend realisierten wir, dass der Camino Primitivo in Arzua mit dem Camino del Norte zusammenfließt. Daraus resultierte natürlich die stark gestiegene Anzahl an bettsuchenden Pilgern. Wir klapperten alle Herbergen ab und mit Hilfe von Judiths spanischer Herkunft, diskutierten wir ebenso mit unterschiedlichen Behörden. Das Problem war nämlich nicht der Mangel an Betten, sondern die Tatsache, dass die öffentlichen Herbergen aufgrund der Pandemie geschlossen wurden. Judith lieferte sich mit einem jungen Polizisten noch ein verbales Duell über die Sinnhaftigkeit dieser Schließungen in Anbetracht des heiligen Jahres und des bevorstehenden Festivals in Santiago.

Ich hatte über booking,com inzwischen ein letztes Hotelzimmer gefunden und wir beschlossen, dass ich dieses buchen sollte. Wir wollten dann versuchen, das Zimmer zu dritt nutzen zu dürfen. Wir erreichten das Hotel gemeinsam mit einem jungen spanischen Paar. Die junge Frau an der Rezeption schien von den vielen müden Pilgern, die händeringend nach Schlafmöglichkeiten suchten, inzwischen überfordert und ein wenig genervt zu sein. Das spanische Paar hatte allerdings reserviert: ein 4-Bett-Zimmer! Es war anscheinend kein anderes mehr verfügbar. Judith ergriff in ihrer aufgeweckten Art gleich die Chance und fragte, ob wir die Zimmer denn tauschen könnten. Allerdings stellte sich nach einigem Hin- und Her heraus, dass die Buchung von booking nicht umgesetzt werden konnte, da es hierfür kein freies Zimmer mehr gab. Judith diskutierte und handelte, wie auf einem orientalischen Bazar um ein Produkt, dass offensichtlich nicht mehr existierte. Doch inzwischen war auch der Hotelchef eingetroffen und bat uns, auf der Terrasse Platz zu nehmen. Er wollte sein Möglichstes tun. Das spanische Pärchen war durchaus bereit zu tauschen, sollte er ein geeignetes Zimmer finden. Es war inzwischen 15:00 Uhr und wir hatten Durst und Hunger. So tranken wir ein kühles Bier und aßen Nüsse aus unserem Backpack. Uns erreichte währendessen die fröhliche Nachricht, dass Marcel seinen ‚Santiago Kamikaze‘ tatsächlich adoptieren durfte, was speziell meine Laune um einiges anhob. Ich freute mich sehr für die beiden! Um ca. 16:30 Uhr erhielten wir die erlösende Nachricht, dass ein Zimmer aufgetrieben werden konnte (ich möchte nicht wissen, wer hierfür sein Leben lassen musste) und wir das 4-Bett-Zimmer beziehen dürften. Judith äußerte lachend, dass wir länger gebraucht hätten eine Schlafmöglichkeit zu finden, als das heutige Etappenziel erreicht zu haben.

Wir bezogen dankbar das wirklich schöne Zimmer, für das jeder von uns am Ende 27€ bezahlt hatte. Nun ging das große Planen für die kommenden Tage los! Alle drei saßen wir mit unseren Nasen tief über die Handys gebeugt und suchten Unterkünfte, die uns zumindest einmal gut über die Zeit bis Santiago bringen sollten. Allerdings wollten zumindest Adelina und ich noch bis Finisterre. Ich war nach einigen Stunden bis zum 27.07. abgesichert. Vom 23.07.-26.07. würden wir uns in Santiago de Compostela aufhalten. Allerdings erst in einer Herberge und später in einem Hotel. Judith hatte für morgen nochmal ein Gemeinschaftszimmer gebucht und wir würden somit am Freitag gemeinsam Santiago erreichen. Uns brummte der Schädel von der Zimmersucherei und so setzten wir uns noch ein wenig auf die Hotelterrasse. Judith, die immer essen konnte und Hunger hatte, verabschiedete sich, denn sie wollte aufgrund der hiesigen Preise lieber in der Stadt essen. Kaum war sie weg, tauchte Mariam auf, die zuvor mit Adelina telefonisch in Kontakt gewesen war. Sie und Gorka (endlich kenne ich seinen richtigen Namen) , die inzwischen zum Camino- Pärchen geworden waren, hatten eine Unterkunft gefunden und Mariam wollte uns einfach nur besuchen. Wir freuten uns, trotz unserer Müdigkeit, sehr über diese Überraschung und saßen bei einem gutem Käse noch ein wenig zusammen. Judith kam kurz dazu, verschwand dann aber ungewöhnlich schnell auf dem Zimmer. Inzwischen war es sehr kalt geworden und auch ich verabschiedete mich, um das Bett aufzusuchen. Im Zimmer war Judith schon schlaffertig aber noch wach. Ich sprach kurz mit ihr und bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Ich sah sie direkt an und fragte, was los sei. Manchmal braucht es nicht mehr. Auch bei Judith flossen die Tränen in Strömen. Ich setzte mich zu ihr und nahm sie in die Arme. Wir sprachen noch lange über das, was sie bedrückte. Leider konnte ich ihr nicht helfen. Niemand kann dem anderen helfen. Nur jeder sich selbst. Aber es tut gut, den inneren Druck für ein Weilchen etwas zu lösen und zu wissen, dass man dafür nicht verurteilt wird. Ich wünsche diesem zauberhaften und sehr aufgeweckten Wesen, dass sie ihren Weg findet und so glücklich wird, wie sie sich es wünscht und auch verdient hat. Um kurz vor 24:00 Uhr betrat Adelina das Zimmer und unser wirklich sehr lange Tag nahm endlich ein Ende.