Nachtrag zum 25.07.21

Judith kam zu uns ins Hotel und warf sich zwischen Adelina und mich auf das große Hotelbett. Es fühlte sich toll an, mit den beiden Mädels so vereint zusammenzuliegen. Wir alberten ein wenig herum und ich zeigte beiden meine 5 Muscheln, von denen zwei noch leer waren. Ich erklärte ihre Bedeutung und meinte, wenn sie eine Idee hätten, womit ich die letzten beiden füllen könnte, könnten sie mir dies gerne mitteilen. Dann überreichte ich Judith ihr kleines Geschenk und erntete eine stürmische und lang andauernde Umarmung. Judith teilte uns ein sehr privates männliches ‚Camino- Problem‘ mit und fragte um Rat. Ich antwortete, dass ich ihr keinen Rat geben könne, da wir hier unterschiedlich tickten. Aber ich könne ihr sagen, wie ich in ihrem Fall vorgehen würde: Tue nur, was du emotional mit dir vereinbaren kannst. Stelle dir das schlimmste Endprodukt deines Handelns vor und prüfe, ob es dich verletzt. Wenn ja, prüfe weiter, ob es das wert ist. Falls nicht, lass die Finger davon. Wenn du es jedoch problemfrei genießen kannst: Let’s go! In meinem gebrochenen Englisch waren die Worte zwar anders gewählt, drückten den Sinn jedoch ebenso aus. Sie schaute Adelina und mich an und fragte: „So einfach ist das?“ Adelina und ich nickten. Judiths Erkenntnis kam schnell: „Oh my god. I am a Dramaqueen!“ Wir lachten schallend und Judith schien das ‚Problem‘ damit erst einmal abgehakt zu haben. Zumindest wünschte ich ihr das.

Wir rappelten uns auf, da Mariam sich gemeldet hatte und wir uns mit ihr und Gorka treffen wollten. Judith klärte noch mein Package- Problem mit dem jungen Mann an der Hotelrezeption und teilte mir mit, ich könne die unbenötigten Sachen hier im Hotel lassen. Wir liefen somit los und fanden uns zu fünft am Treffpunkt vor der Kathedrale wieder. Dort lungerten wir ein Weilchen herum und genossen den relativ schönen und regenfreien Abend. Ich überreichte Mariam ihr Geschenk und auch sie nahm mich in die Arme und weinte ein paar stille Tränen.

Anschließend suchten wir eine sehr nette Bar auf und bestellten 4 Bier und einen Rotwein für Gorka. Es wurde so entspannt lustig, wie jedes unsere Treffen zuvor. Keiner von uns sprach darüber, dass es der letzte gemeinsame Abend sein würde. Doch das Ende lag in der Luft und speziell Gorka war anzumerken, dass ihm die Trennung von Mariam sehr schwer fallen würde. Hier war eindeutig mehr, als eine komplikationslose ‚Camino- Begegnung‘ im Spiel.

Am Nebentisch wurde gesungen und ein Teil unseres Tisches stimmte in den mir unbekannten Song ein. Dieser unverkrampfte und spontane Ausdruck von Lebensfreude würde mir fehlen. Alles würde mir fehlen. Doch irgendwann musste der Abschied erfolgen und wir standen bleiern auf. Die Stimmung wechselte schlagartig, wie ein Lichtschalter, den man ungewollt umgeschaltet hatte. Mariam und Adelina lagen sich minutenlang in den Armen. Ihre Bindung war sehr intensiv und es sah aus, als löse man zwei Kaugummis voneinander, als sie sich dann letztlich doch trennten. Die sonst so starke Adelina stand mit rot verquollenen Augen in einer Straße voller Bars mit lachenden und feiernden Menschen. Die immer fröhliche Mariam versuchte nach wie vor, unter den Tränen ihr Lächeln nicht zu verlieren. Gorka drückte mich und Judith abwechselnd. Hier war aufgrund der Sprachbarriere zwar kein inniges Verhältnis zustande gekommen, dennoch war die Sympathie vom ersten Augenblick an vorhanden und die wenigen Worte, die wir gewechselt hatten, zeigten durchaus Gemeinsamkeiten. Die Verabschiedung von Mariam gestaltete sich mit einem Felsbrocken auf der Brust und einer Schlinge um den Hals. Ihre fröhliche Art hatte uns alle immer sehr angesteckt. Als ich sie im Arm hielt, flüsterte sie in mein Ohr, dass sie nun in ihren Entscheidungsfindung weiter wäre. Zumindest würde sie dies hoffen. Und ich antwortete: „Ich hoffe es ebenso für dich“. Gorka und Mariam liefen in entgegengesetzter Richtung davon, Judith begleitete uns noch bis zum Hotel. Ich nahm Adelina in meinen rechten Arm und drückte sie fest, denn sie konnte ihre Gefühle nun nicht mehr zügeln. Dann zog ich Judith in meinen linken Arm und so liefen wir gemeinsam zum Hotel. Dort setzten wir uns auf eine Treppe und rauchten eine letzte gemeinsame Zigarette. Auch Judith war eigentlich Nichtraucher. Jedes Wort, welches wir wechselten, schien die Tränen zurückhalten zu wollen, denen wir so nahe waren. Judith meinte: „It‘s not a ,good bye‘, it‘s only a ,see you later‘“. Dennoch fühlte es sich nach einem ‚good bye‘ an. Wir saßen ein Weilchen schweigend und nachdenklich nebeneinander. Adelina in unserer Mitte. Plötzlich neigte sich Judith nach hinten und sah mich hinter Adelinas vorgebeugtem Rücken an. Sie hätte einen Eintrag für eine meiner Muscheln: ‚liebevoll‘ oder ‚herzlich‘. Und dann fügte sie hinzu: „I love you“, nahm daraufhin Adelina in den Arm und wiederholte ihre Worte. Wir stellten uns wieder hin, denn nun war der Abschied mit Judith gekommen. Ein zartes, intelligentes, manchmal schusseliges und energiegeladenes Wesen, das uns in so kurzer Zeit ans Herz gewachsen war. Wir drückten uns im Trio und Judith schmatzte sowohl Adelina, als auch mir einen dicken, feuchten Kuss auf die Wange. Vielleicht kam die Feuchte aber auch von den weiteren, nicht enden wollenden Tränen.
Adieu zauberhafte Mariam, lieber Gorka und verrückte Judith! Wahrscheinlich sehe ich keinen von euch je wieder. Es gibt wenig Menschen, die sich so schnell in mein Herz katapultiert haben, aber ihr gehört definitiv dazu!

26.07.21

Adelina und ich starteten heute unseren ,neuen’ Camino nach Finisterre. Zuvor benötigten wir, wie die anderen Tage auch, unseren Kaffee, den wir einige Meter vom Hotel entfernt zu uns nahmen. An der Hotelrezeption hinterließ ich mein überschüssiges Gepäck und dann konnte es losgehen. Die erste gute Nachricht: Es waren zwar einige Pilger unterwegs, aber es war weit von dem Massentrubel entfernt, den wir vor Santiago erleben mussten. Wir ließen es ruhig angehen, da wir erst um 10:00 Uhr losgezogen waren und somit in die Mittagshitze kamen. Nach nur 8 km machten wir unsere erste Pause und ließen es uns mit Kaffee und frisch gepressten Orangensaft gutgehen. Die erste Etappe gestaltete sich als wahrer landschaftlicher Traum. Wir durchliefen Märchenwälder, wanderten an unendlichen Maisfeldern vorbei und passierten eine Steinbrücke, mit Blick auf einen kleinen, wunderschönen Wasserfall, an dem wir unsere zweite Pause einlegten. Hier streckte ich meine Füße ins eiskalte Wasser, schloss für einen kurzen Moment meine Augen und lauschte dem Rauschen des Wassers. So fühlt sich Leben an!

In Negreira trennten sich unsere Wege, da ich eine andere Unterkunft gebucht hatte. Erst ab dem morgigen Tag würden wir auch in den selben Herbergen übernachten. Mein Weg führte mich ein weiteres Mal an diesem Tag den Berg hinauf. Denn, so schön die heutige Etappe auch gewesen war, so war sie auch sehr anspruchsvoll. Es ging oft mehrere Kilometer steil bergauf, was durch die Hitze nicht unbedingt erleichtert wurde.

Ich kam um 16:10 Uhr an meiner Herberge an und war positiv überrascht. Es gab zwar keinerlei Möglichkeit der Nahrungsaufnahme, dafür befand ich mich zusätzlich auf einer Tierfarm. Da bleibe ich doch gerne mal eine Nacht hungrig 😉. Vom Hängebauchschwein über Ziegen, Lamas, Pferde und Kühe, bis zu Gänsen und Katzen war alles vorhanden. Ein blindes Pferd wurde von mir minutenlang mit Streicheleinheiten verwöhnt und auch eine der Katzen fand Vertrauen zu mir. Gegen 21:15 Uhr bestellten einige der Pilger vom nahegelegenen Restaurant etwas zu essen und ich schloss mich an. Allerdings scheint bis zum jetzigen Moment kein Essen in Sicht zu sein und ich befürchte, dass morgen einige der Tiere aufgrund der hungrigen Pilger ihr Leben lassen mussten. Als Tierliebhaber starte ich ab diesem Moment ein Stossgebet gen Himmel. Es ist 22:22 Uhr und die Hoffnung stirbt auch auf dem Camino zuletzt 😉.