Ich habe gut und fest geschlafen und erwachte erst um 7:15 Uhr. Das ungewohnte Wissen, nicht aufstehen zu müssen, war entspannend und wehmütig zugleich. Ich ließ mir Zeit, duschte lange und rasierte meine Beine mal wieder gründlich. Vor dem Spiegel in meinem Zimmer brachte ich den gestern ergatterten Lidschatten auf meine Augen und packte noch Wimperntusche dazu. Ich wollte heute Nachmittag ein wenig nach einem günstigen Outfit für Sonntag stöbern, denn da trafen wir uns alle zum großen Festtag und ich wollte ausnahmsweise mal wieder aussehen, wie eine Frau und nicht, wie ein Peregrino. Ich machte mir in der Küche der Pension einen Kaffee und aß mein erworbenes dunkles Malzbrot mit Avocado. Dann stöberte ich im Handy verschiedenen Tattoo-Vorlagen durch. Um 12:30 Uhr hatte ich heute einen Termin bei einem Tattoowierer, der mir von der spanischen Leia empfohlen worden war. Eigentlich wusste ich schon was ich wollte, aber ein wenig Inspiration schadete trotzdem nicht. Doch zuvor musste ich dringend zur Wäscherei. Die meisten meiner Sachen waren feucht oder rochen unangenehm. Meine Schuhe waren auch noch immer nass, aber diese wollte ich ungern in die Waschmaschine zu meiner Kleidung packen. Im gegenüberliegenden Decathlon kaufte ich günstige Turnschuhe und Socken und wechselte diese dann sofort gegen meine Sandalen. Draussen war es frisch, aber es regnete zumindest nicht. Dann lief ich zur Wäscherei und wartete im angenehmen Vorraum mit dem Rest einer Harribotüte bewaffnet, auf die Vollendung der Waschmaschine und später des Trockners.

Als ich um 12:25 Uhr Richtung Tattoostudio hastete, meinen Rucksack mit frisch duftender Wäsche gefüllt, war ein Durchkommen in der Stadt kaum möglich. Menschenmassen drängten sich durch die Gassen Santiagos und verbreiteten ein buntes Geschnatter verschiedenster Sprachen. Ich erreichte mein Ziel, ein kleines, sehr sauberes Tattoostudio mit allerlei chinesischem Tinnef, um 12:34 Uhr. Der junge Mann hinter der Theke sprach sehr gut englisch und fragte nach meinem Wusch. Ich hatte eine Vorlage dabei, die noch leicht verändert werden sollte, und legte ihm diese vor. Nachdem ein weiterer junger Mann mit unglaublich bernsteinfarbenen Augen, meinen Wunsch zu meiner Zufriedenheit umgestaltet hatte, schritten wir zur Tat. Auch der junge Tattoowierer sprach gut englisch und ich fragte ihn, wie oft er mein Tattoo schon hatte umsetzen müssen. Er sah mich an und meinte: „You are the first“, was mich sehr erstaunte. Er hätte täglich Unmengen an Muscheln, Kreuzen und Pfeilen zu tattoowieren. Und ebenso oft ‚buen camino‘. Aber mein wirklich sehr gewöhnlicher Wunsch schien ungewöhnlich zu sein. Wir unterhielten uns über die Camino-Route und er zollte mir tatsächlich etwas Respekt gegenüber einer Leistung, die ich als solche nicht empfinde. Viele liebe Menschen haben mir gratuliert und sich vielleicht auch darüber gefreut, dass ich es unbeschadet bis Santiago geschafft habe. Ich freute mich deutlich mehr über ihre Freude und Anteilnahme, als über mein erreichtes Ziel. Und da mir der Weg noch immer wichtiger war, als die Ankunft in Santiago de Compostela, zierten meinen rechten Oberschenkel in geschwungenen Lettern jetzt die folgenden Worte: camino del norte!

Der Regen schien nicht enden zu wollen. Die Straßen waren nass und die Luft sehr kühl. Ich besorgte mir für wenig Geld zwei neue Hosen und einen Pullover, die ich heute und morgen tragen wollte. Im Hotel zog ich die neue Jeanshose dann gleich an, da sie deutlich wärmer war, als meine Zipphosen. Dann telefonierte ich wieder einmal mit Deutschland und erfuhr so, dass ich dringend nach einem Rückflug schauen musste, da wohl einige Flüge gecancelt worden waren. Spanien war inzwischen von Deutschland wieder zum Risikogebiet erklärt worden, und ich musste mich außerdem für den Heimflug registrieren lassen. In meinem Backpack befand sich der Impfausweis und gab mir hier ein wenig das Gefühl von Sicherheit. Ich beschloss dennoch, mich erst später um den Flug zu kümmern, da wir mit Judith verabredet waren und Adelina und ich noch die Kathedrale besichtigen wollten. So machte ich mich fertig und lief los. Auf der Straße traf ich dann auch auf mein ‚Rumanian Girl‘ und wir betraten gemeinsam Santiagos Wahrzeichen. Der Prunk innerhalb der Kirche war sowohl atemberaubend als auch Atem raubend. Für das Auge eine wahre Pracht, für Brust und Herz ein Felsbrocken der Macht. Zumindest für mein Gefühl. Ich kann durchaus verstehen, dass man schmückt und ziert, was einem selbst als wichtig erscheint, doch was mir hier ins Auge sprang, ging über Zierde weit hinaus. Ich bitte mir zu verzeihen, dass mir dieser Protz für ein Gotteshaus einfach ein ‚Touch too much‘ ist. Dennoch, aus Sicht der Kunst, ein einmaliges und beeindruckendes Bauwerk mit einem unfassbar prunkvollem Innenleben.

Wir trafen uns anschließend mit Judith und der spanischen Sophie, die den Camino Primitivo gelaufen war. In 13 Tagen 320 km über die Berge. Sophie sprach kaum englisch, verstand aber recht viel, so dass eine Unterhaltung dennoch möglich war. Wir hatten einen sehr netten Abend, den Judith mit schätzungsweise 6-7 großen Gläsern Bier krönte. Um 23:30 Uhr startete das große Feuerwerk und wir liefen Richtung Kathedrale. Eine kurze Zeit beobachtete ich das Spektakel am Himmel und konzentrierte mich dann auf die Menschenmasse, die still und andächtig dem lauten und bunten Lichtertreiben zusah. Ich stellte mir vor, so hätte uns Santiago gestern in Empfang genommen. Nur ohne Feuerwerk. Und wenn nach dieser Knallerei nun alle ebenso still und andächtig auf die Knie gefallen wären, dann wäre dies sicher durchaus albern gewesen, hätte aber die Wertigkeit gehabt, die ich mir in meinem Innersten so sehr gewünscht hätte.

Anschließend hatten Sophie und Judith noch Lust auf Party und Adelina und ich wackelten müde in unser gefühlt luxuriöses Hotel. Und während Adelina sich nachts um 1:00 Uhr mit Essen aus ihrem Rucksack vollstopfte, buchte ich für 250€ den letzten Direktflug nach Frankfurt, den ich kriegen konnte. Bei allen weiteren Flügen hätte ich, während des Zwischenstops, eine weitere Nacht in einem Hotel verbringen müssen.

25.07.21 Am folgenden Morgen erwachten Adelina und ich erst um 9:15 Uhr. Ich hatte so gut geschlafen, wie noch nie. Ich hüpfte schnell unter die Dusche und wir suchten anschließend ein Cafe auf, da und das Frühstück im Hotel zu teuer war. Nach zwei Tassen Kaffee fühlten wir uns fit und liefen ein wenig durch die Stadt. Das Wetter hatte sich nicht an die Vorausschau der App gehalten und erfreute uns mit etwas Sonne. An manchen Stellen war der Boden kunstvoll mit Blühtenbildern geziert, man konnte überall bunte Heliumballons kaufen und über unseren Köpfen kreisten, zu unserer Sicherheit, zahllose Helikopter. Um 13:30 Uhr waren wir mit Gorka und Mariam in einem vegetarischen Restaurant verabredet. Mariam sah toll aus in ihrem schwarzen engen Kleid mit der ebenso schwarzen Schleife im Haar. Judith stieß ebenfalls zu uns. Ihr lag die gestrige Nacht noch bleiern im Körper, aber sie wollte diesen letzten Tag unbedingt mit uns verbringen. Wir ließen so viele Geschichten Revue passieren, dass ich innerlich, trotz unserer guten Stimmung, wieder etwas schwermütig wurde. Nach dem Kaffee verabschiedete ich mich, um noch etwas durch die Stadt zu bummeln und wir beschlossen, uns am Abend wieder zu treffen. In einem Laden kaufte ich 3 Lederbänder, 3 Herz- und 3 Muschelanhänger und band daraus 3 Ketten. Diese wollte ich den Mädels am Abend zur Erinnerung an eine tolle Zeit überreichen. Dann lief ich zurück zum Hotel, um in meinen Blog zu schreiben und etwas zu ruhen. Adelina betrat wenig später ebenfalls unser Zimmer. Ich bat sie, sich umzudrehen und ihre Augen zu schließen und legte ihr die Kette um den Hals. Sie drehte sich, mit Tränen in den Augen um und nahm mich fest in den Arm. So standen wir eine kurze Weile fest umschlungen und weinend in unserer ‚Luxussuite‘ und weinten Pilgertränen.

Judith meldete sich, und ich bat sie, zu uns ins Hotel zu kommen. Ich musste dringend klären, wo ich meine unnötigen Sachen lassen konnte, die ich nicht mit nach Finisterre nehmen wollte und Judith hatte mir angeboten, im Hotel die Kommunikation zu übernehmen. Anschließend treffen wir dann noch den ‚Rest‘ und werden den letzten gemeinsamen Abend zusammen haben. Wir werden lachen, singen, trinken und wieder unendlich viel weinen. Aber inzwischen schäme ich mich nicht mehr dafür.