Wetterlaunen, ‚Foodbubbles’ und täglich grüßt ein Murmeltier
12.07.21. Ich denke, die Angestellten des Hotels in Canera sollten dringend den Camino laufen und ihre wahre Bestimmung finden. Denn diese war es definitiv nicht.
Um 8:00 Uhr gibt es vom unfreundlichen Personal Frühstück. Es wundert mich immer wieder, dass es trotz der direkten Lage am Pilgerweg nur wenig Beherbergungen gibt, die vor dieser Uhrzeit eine Stärkung anbieten. Heute spielt es keine große Rolle, denn es regnet und wird voraussichtlich nicht wärmer als 17 Grad werden, aber an heißeren Tagen ist das frühe Fortkommen sinnvoll, um in der starken Mittagshitze dann eventuell eine längere Pause einlegen zu können, oder vielleicht sogar schon am Zielort zu sein. Ich bin Kälte- und Regengesichert, heute kann das Wetter mir nichts anhaben. Allerdings haben die zwei letzten „Grübeltage“ natürlich wieder Schlaf gekostet. Aber eine Herausforderung pro Etappe sollte schon gegeben sein. Heute wurde es wohl die Überwindung der Müdigkeit 😄. Doch am Ende kam es dann doch anders, als erwartet…
Ich bin Punkt 8:00 Uhr am Frühstückstisch und esse einen Aprikosenkuchen. Das muss zu Hause wieder aufhören, denn die 20-30 km pro Tag bekomme ich in meiner kleinen Wohnung nicht abgelaufen. Um 8:20 Uhr geht die Tür auf und Eloy betritt den Raum. Auch er hatte die Nacht hier verbracht und den letzten Abend wohl mit einigen anderen Pilgern noch ein Bierchen getrunken. Das erzählte er mit leicht fragendem Unterton, aber ich gehe nicht darauf ein. Mit 35 Jahren kann man vielleicht noch 2 Nächte durchmachen, mit 53 Jahren brauchte man für eine kurze Nacht mindestens 2 Tage Erholung. Er fragte, wo ich heute mein Ziel gesetzt hätte und ich antwortete: „Pin(j)era. Aber das mache ich vom Weg abhängig“. Wir verabschiedeten uns, da er seine Wäsche noch trocknen musste und wir grundsätzlich ja eh nicht zusammen laufen wollten. Ich lief regenfest eingepackt los, da es tröpfelte und man nie wusste, wann der Regen richtig losbrechen würde. Der Weg begann wunderschön im Wald mit gut begehbarem Boden. Schon nach wenigen Metern traf ich auf einen Wegweiser, auf dem vorangegangene Pilger zwei ihrer Sorgensteine abgelegt hatten. Und daneben lag, fröhlich auf mich wartend, MEIN Stein! Groß, schwer und kantig. Perfekt! Ich packte das Ding fest mit beiden Händen und balancierte ihn auf den kleineren ‚Brüdern‘ aus. Er saß fest, ohne zu wackeln. Klar, er gehörte ja auch dort hin 😉!

Es lief sich anschließend tatsächlich beschwingter und ich musste grinsen bei dem Gedanken an die erstaunten Blicke der Pilger, die an diesem Wegweiser mit seinem kuriosen ‚Klotzturm‘ (der ein wenig an Gijons Bauten erinnerte) vorbeikamen. Der Wald strahlte Beruhigung und Sicherheit aus. Ich hätte stundenlang in ihm verweilen können. Der Boden war weich und es ließ sich angenehm laufen. Auch nachfolgende Wege bereiteten mir keine Schwierigkeiten. Mein Körper war wie ausgewechselt. Meine Beine griffen in jeden Untergrund, wie frisch geölte Zahnräder. Ich hatte einen guten Schnitt von mehr als 4 km pro Stunde und fühlte mich fit und ausgeruht. Von Müdigkeit keine Spur. Ich war so gut gelaunt, dass ich Eloy eine Wegesnachricht auf einem Stein hinterließ. Mit einem meiner erworbenen Marker schrieb ich: ‚buen camino Eloy‘ auf einen flachen Stein und stellte diesen in Sichthöhe auf eine Mauer.


Es quälten mich weder schwere Gedanken noch Schmerzen. Nach ca. 3,5 Stunden machte ich eine kurze Pause, die ich gefühlt gar nicht gebraucht hätte, aber die Vernunft meldete sich auch mal zu Wort. Meinem Rucksack entlockte ich nur noch Ziegenkäse und eine Banane, was den Hunger jedoch erst einmal stillte. Ich hatte mich inzwischen meiner Regenjacke entledigt, da es recht warm geworden war. Ich lief dennoch vorsichtshalber mit einem Langarmshirt weiter. Nach nur wenigen Minuten verwandelte sich die eben noch ruhige Landschaft in ein Duett zweier Naturgewalten. Ein heftiger Sturm blies mir um die Ohren und machte es kaum möglich, den Regenschutz wieder überzuziehen. Ich wurde aufgeblasen, wie ein riesiger Heliumluftballon und hätte mich nicht gewundert, wie Mary Poppins über die Landschaft zu schweben. Zum Sturm gesellte sich der Regen, der sich vom sanfen Nieseln bis zum Wolkenbruch steigerte. Ich trug inzwischen Regenjacke, Basecap, Sonnenbrille und Schlauchschal und hatte alles so tief wie möglich in mein Gesicht gezogen. Dennoch blieb ein schmaler Rand zwischen Brille und Schal frei, indem die Regentropfen wie Nadeln ins Gesicht schlugen. Die Kühe auf der Weide drängten sich eng zusammen, einige liefen konfus umher und versuchten, mit ausschlagenden Hinterfüßen Wind und Regen zu vertreiben. Kurzzeitig war der Sturm derart kräftig, dass ich es tatsächlich mit der Angst zu tun bekam, aber ich befand mich auf freiem Feld ohne Möglichkeiten mich unterzustellen oder zu schützen. Diese Situation hielt jedoch nicht lange an, und nur kurze Zeit darauf schien für einige Minuten wieder die Sonne. Diese beiden Zustände wechselten sich nun gegenseitig ab, so dass man sich einem ständigen Kleiderwechsel unterziehen musste. Zu allem Übel bog ich an einer, nicht eindeutig gekennzeichneten Stelle, in die falsche Richtung ab, und fand mich gute 20 Minuten später an einer Stelle wieder, die ich zuvor schon einmal begangen hatte. Dieser extra ‚Circle‘ kostete mich zwar Zeit, da jedoch meine Beine noch immer keinerlei Ermüdungserscheinungen aufwiesen, währte der Ärger nicht lange. Zu ändern war es ja nun sowieso nicht mehr.

Kurz vor Pin(j)era suchte ich eine kleine Bar auf, nahm meinen geliebten Kaffee und ein „Kartoffelgratin- Baguette“ (die Spanier ‚baguetterieren‘ irgendwie alles 🤷🏻♀️) zu mir, ging in einem kleinen Lebensmittelladen noch Kekse, pappige Milchbrötchen, Käse und Bier holen und begab mich zur auserwählten Unterkunft. Diese war eine Pilgerherberge, welche bei meinem Betreten, bis auf zwei ältere spanische Pilger, völlig verlassen war. Nach einer halben Stunde, ich hatte es mir auf einem Sofa gemütlich gemacht und bekrümmelte diese mit meinen Keksen 😊, kamen die Herbergseltern und sprachen perfekt Englisch! Das reichte, um mit an die Spitze meiner Lieblingsherbergen zu kommen ☝🏻! Es gab zwei Schlafsäle, eine Waschmaschine, natürlich den getrennten Sanitärbereich und eine Kaffeemaschine. Das Wichtigste wäre somit aufgezählt. Die Herbergsmutter fragte mich, ob ich eine italienische Pilgerin kenne, denn diese hätte angerufen und wäre auch gleich hier. Klar kannte ich eine: Mariam! Ich ging in den Schlafsaal, wählte mein Bett und bezog es. Da öffnete sich die Tür und herein kam Adelina, die Rumänin, gefolgt von Eloy. Draussen hörte man die spanische 6er Gruppe johlen und als ich zur Toilette wollte, saß Mariam mit dem Rücken zu mir an der Anmeldung. „Hi, crazy Italien girl“ begrüßte ich sie. „Daniela“, rief Mariam lachend, „now I know, that I am on the right way“, fügte sie hinzu. Es war toll, die ganzen bekannten Gesichter zusammenzuhaben. Am meisten aber freute ich mich über Eloy. Es gibt Menschen, die geben mit ihrer Anwesenheit jeder Situation ein wenig mehr Bedeutung. Das sind die ‚Lieblingsmenschen‘! Eloy war mein persönlicher ‚Camino-Lieblingsmensch‘😊! Als wir kurz alleine im Schlafsaal waren, meinte er, dass er nicht gedacht hätte, dass wir uns so oft begegnen, er aber sehr glücklich darüber sei. Er fügte hinzu, dass er das in Englisch jetzt nicht so richtig ausdrücken könnte. Ich verstand ihn, schließlich ging es mir ja genauso. Und mit einer ‚Liebeserklärung‘ hat das maximal im freundschaftlichen Sinne zu tun☝🏻😄!

Wir saßen noch ewig zusammen, quatschten fröhlich auf spenglisch und erfanden Worte, die man in keinem Wörterbuch findet, uns aber Erklärungen leichter machten: Foodfingers (Zehen), Footbubbles (Blasen), treebed (Hängematte),…und viele mehr. Ich trank zwei Dosen Bier und rauchte mit Adelina, die eigentlich aufhören wollte, eine Zigarette. Dann war ich totmüde und wankte ins Bett um dort bis 4:00 Uhr kein Auge zuzumachen 🙄. Wahrscheinlich war ich einfach zu aufgedreht. Um 6:00 Uhr wachte ich auf und um 6:45 Uhr hielt mich auch meine Rücksichtnahme nicht mehr im Bett. Ich packte leise meine Sachen, trank zwei Tassen Kaffee und aß dazu wieder süßen Kuchen. Eloy und Adelina gesellten sich, kurz bevor ich aufbrach, noch dazu. Wir sprachen kurz über heutige eventuelle Ziele, ließen das Ergebnis aber offen und ich verließ um 8:00 Uhr im strömenden Regen die Herberge.

13.07.21 Auch heute lief es sich fantastisch! Natürlich gab es hin und wieder Weges-Abschnitte, die die Knie beanspruchten und man diese dann auch spürte, aber von richtigen Schmerzen würde ich hier nicht mehr sprechen. Am liebsten hätte ich dem Arzt in Villaviciosa ein Video von meinen laufenden Beinen geschickt! Von wegen ‚I’m not going to finished the way‘! Da schreibt man ‚GO!‘ auf seinen Verband und es flutscht ☝🏻!


Das Wetter war wieder sehr trübe, aber es regnete wenig. Heute hatte ich ‚Wechsel- Gefühle‘, wie eine schwangere Frau. Erst war ich traurig, weil jeder Schritt nun ans Ziel führte und dann wieder fröhlich, weil jeder Schritt nun ans Ziel führte 🙄. Wehmut und Heimweh kombiniert. Das wäre dann wohl ‚Wehweh‘ oder ‚Heimmut‘ 🤔😂. Wobei das Heimweh sich ausschließlich auf die Menschen bezog, die ich vermisste. Eine alte Weisheit, aber es trifft zu, dass man erst spürt, wie sehr man diese Menschen liebt, wenn man sie eine zeitlang missen MUSS und nicht mal eben schnell vorbeifahren kann. Dennoch begann nun tatsächlich auch schon die Trauer über den ‚bald‘ beendeten Weg. Zu Beginn wollte ich schnell laufen, doch mein Körper bremste mich. Nun konnte ich schnell laufen, aber meine Seele bremste mich.

Auf dem Weg traf ich Adlina, die aufgrund ihres schmerzenden Knies eine Pause eingelegt hatte. Ich setzte mich zu ihr und aß zwei meiner pappigen Brötchen mit Käse. Unser Gespräch war träge, wir waren beide etwas müde und ausgelaugt. Als ich weiter wollte, schloss sich Adelina mir an, doch wir liefen mehr schweigend neben- und hintereinander her. Es gibt Menschen, da fühlen sich schweigende Spaziergänge oder Wanderungen gut an. Hier war das nicht der Fall und so verabschiedete ich mich von ihr, als sie in einem Laden nach einem neuen Ladekabel für ihr Handy schauen wollte.

Je näher man Santiago del compostella kam, um so mehr wurde man von Einheimischen begrüßt. Es schien, als ob deine Leistung, bis hierhin gekommen zu sein, nun gewürdigt wurde. Wobei man ja seinen Startpunkt nicht auf der Stirn geschrieben hatte. Oder doch🤔? Vielleicht sah ich schon etwas verwahrloster aus, als die ,Starter‘ aus Bilbao oder Gijon 🤷🏻♀️.

Kurz nach El Franco teilte sich der Jakobsweg. Ab hier konnte man wählen zwischen einem verlängerten Weg an der Küste oder ob man direkt durch das Inland läuft. Da in Ribadeo der Küstenweg endete, entschied ich mich für den Weg am Meer. Und so lief ich nach Tapia de Casariego. Eloy wollte dort in der Pilgerherberge telefonisch nach Plätzen fragen und uns dann über Instagram Bescheid geben. Da ich aber auf jeden Fall heute die längere Strecke von knapp 27 km laufen wollte, achtete ich nicht auf seine Antwort. Als ich dann doch nach ihr sah, war ich nur noch 45 Minuten vom Zielort entfernt. Und die Herberge war voll! Nix geht mehr! Ich vermutete somit, dass der Rest der Gruppe dann gar nicht bis hierhin weiterlaufen würde, da es zwischen la Caridad (das wäre Ziel Nr.1 gewesen, aber nur 15 km Fußmarsch) und Tapia de Casariego keine weiteren Herbergen gab. Ich sagte somit Bescheid, dass ich schon hier wäre und nach einem Hostel suchen würde. Eloy meinte, ich solle dennoch in der Herberge mal nachfragen. Das tat ich, allerdings erfolglos. So lief ich in die Stadt hinein und kam an einer gut besuchten Bar vorbei. Plötzlich rief jemand meinen Namen und hielt mich am Rucksack auf. Eloy! Ich fühlte mich wie im Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“, freute mich jedoch und fragte, wie es denn sein könne, dass er schon hier wäre? Schließlich war ich vor ihm gestartet und er hätte mich irgendwo überholen müssen. Er antwortete, dass er aufgrund von Schmerzen im Knöchel einen Teil der Strecke mit dem Zug gefahren sei und wenn er gewusst hätte, dass ich sicher komme, hätte er in der Herberge den Platz gleich reserviert. Ich winkte ab und meinte, es wäre vielleicht ganz gut, wenn ich wieder alleine schlafen würde. Denn im Laufe diesen Tages spürte ich den Schlafmangel nicht nur unter meinen Augenlidern. Er fragte dennoch, ob ich später mit ihm noch ein Bier trinken wollte, doch ich sehnte mich jetzt erst einmal nach einem Kaffee und einer heißen Dusche!

Nachdem ich um 15:30 Uhr ein nettes Hotel für 30€ gefunden hatte und frisch geduscht auf dem Bett lag, schrieb ich Eloy, dass wir gerne noch zusammen essen könnten, da ich ausnahmsweise mal wieder Lust hatte essen zu gehen. Er sagte zu und nun werden wir wohl später noch zum, wenn auch kalten Strand laufen, ein ebenso kaltes Bier trinken und ein hoffentlich warmes Essen genießen ☺️! Und anschließend freue ich mich dann wieder auf einen erholsamen Schlaf im Einzelzimmer!
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