07.06.2022

Das Aufstehen heute morgen fiel nach der kurzen Nacht schwer. Nachdem der Wecker meinen Schlaf beendet hatte, jedoch im Haus noch nichts zu hören war, schloss ich somit nochmal für ca. 15 Minuten meine bleiernen Augen. Um 06:30 Uhr rappelte ich mich träge auf und richtete mich für die, heute ausnahmsweise fest geplante Kurz-Etappe von ca. 20 km. Ziel: Baiona. Nach Kaffee, süßem Croisson und einem Joghurt verabschiedete ich mich um 07:30 Uhr von Nicole und Sylwia. Wir würden uns später in der Herberge wiedersehen, aber heute wollte ich den Camino gerne alleine gehen.

Es war noch frisch und so hatte ich mir meine Fleecejacke bis zum Hals zugezogen und lief stramm voran. Ich genoss die Stille, denn außer dem Klackern meines Stockes im üblichen 4/4 Takt, dem Rauschen des Atlantiks und der Schreie der Möwen war es angenehm ruhig.

Schon nach wenigen Kilometern brach die Sonne durch, ließ die Farben des Landes strahlen und mich meine Jacke wieder im Rucksack verschwinden lassen.

Meine Gedanken kreisten langsam um Dinge, die ich in Deutschland noch ungeklärt zurückgelassen hatte. Um Zukunftsperspektiven, Wünsche, Möglichkeiten und natürlich auch über mein aktuelles Projekt: Ein Leben ohne Alkohol.

Ich vermied die Vergangenheit und konzentrierte mich auf die Zukunft. Mein Camino ein Jahr zuvor auf dem Nordweg Spaniens, hatte mich deutlich erkennen lassen, was ich NICHT mehr wollte. Doch die Umsetzung einer schnellen Veränderung scheiterte an der Realität. Das Leben gibt dir einen Rahmen vor und meiner schien gefühlt aus Stahl zu sein.

Wenn du dein Leben verändern möchtest, stößt dies nicht immer auf Jubel. Gehörst du in das Gewohnheitsfeld einiger Menschen, reagieren diese oft verständnislos, wenn du dieses reduzieren oder gar verlassen möchtest. Ich habe erleben müssen, dass man sich abwendet, wenn du keine Spielfigur ihres Lebens, sondern möglicherweise nur noch Mitspieler sein möchtest. Mit eigenen Bedürfnissen und Regeln. Manchmal tat es weh, manchmal war es einfach nur die Bestätigung eines Gefühls, das ich eh schon hatte. Am Ende wurde es zum emotionslosen Hinnehmen einer Tatsache, die sich nicht ändern lässt. Resignation.

Diese Etappe wurde trotz der Gedanken-Achterbahn zur schönsten seit meines Starts in Porto. Es ging endlich über Berge mit traumhaften Aussichten und einer klaren Luft zum Atmen. Keine Forderungen, keine Erwartungen. Das ungeschminkte Sein. Wenn auch nur für die kurze Zeit auf dem Camino. Ich lebe!

Meine Freude über diesen fantastischen Weg wurde auch nicht von den körperlichen Nebenerscheinungen getrübt. Maximus fand speziell die großen abgerundeten Steine und den heißen Asphalt beim Abstieg suboptimal und zwang mich wieder zu meinem ‘Reverse Movie Move‘. Da ich aber trotz rückwärtigen flotten Abstiegs einige Pilger überholte, feuerte mich Fräulein Ehrgeiz weiter an. Ich bin kein Flachländer- Maximus leider schon.

In Baiona lief ich dann leider einem Pilger gedankenlos hinterher, was mir einen Umweg zu meiner Herberge von gut 2 km einbrachte. Shit happens.

Bei meiner Ankunft traf ich dann gleich auf Nicole, die wenige Minuten zuvor eingetrudelt war und nach einer angenehmen Dusche erschien dann auch Sylwia. Gemeinsam gingen wir in der Stadt gemütlich ein kühles Bier trinken (natürlich wieder 0,0!) und später deckten wir uns im Supermarkt noch mit Essen und Getränken ein.

Am frühen Abend pendelten Nicole und ich dann nochmals durch die Stadt, wobei ein leckeres Eis für mich abfiel. Sylwia wollte das Castelo de Monterreal besichtigen. Ich entschied, dass mir der Anblick von außen genügte.

Den sehr kühlen Abend ließen wir gemütlich ausklingen, allerdings plagte meine liebe Nicole unsere Camino-Zukunftsplanung. Da ich beschlossen hatte auf meinem Weg plan- und möglichst ziellos unterwegs zu sein, konnte ich ihre Sorge zwar nicht nachempfinden, ließ mich auf eine Planungsunterstützung aber gerne ein.
Mir war tatsächlich jeden Tag aufs Neue völlig egal wo ich landete. Ich war tiefenentspannt. Eine Möglichkeit fand sich immer und längere Etappen ließen sich mit genügend Pausen durchaus bewältigen. Ich denke aber, dass Nicoles kleines Hauptproblem ein anderes ist…: Sie kann nämlich wesentlich mehr, als sie sich selbst zutraut ;-)…

Nun ratet mal, wer da die Wurst vom Brot genommen hat ;-D?