12.06.2022

Die Nacht war schrecklich und der Morgen endete früh. Wir teilten uns die Herberge mit einer Gruppe freundlicher aber leider unzivilisierter Portugiesen, die wenig Verständnis für Rücksichtnahme und noch weniger für Zurückhaltung hatten. Sämtliche Geräusche, die ein menschlicher Körper verursachen kann wurden hemmungslos ausgelebt. Ich kann nur hoffen, dass diese Gruppe kein Paradebeispiel für die Mentalität Portugals ist.

Ich startete um 06:45 Uhr und wäre gerne früher los, wollte aber die Portugiesen in ihrer morgendlichen Aufbruchsstimmung nicht stören. So stieg ich um 06:15 Uhr aus dem Bett und war nach einem recht guten Kaffee aus dem Automaten und einer kurzen Verabschiedung von Karl und Liza um 06:45 Uhr auf dem Camino.

Ich war keine 20 Minuten unterwegs, da bekam ich eine Nachricht von Nicole: Sie hatte beschlossen, nun doch heute in Santiago einzulaufen! Ja, ich freute mich! Nicole hatte mich nun fast den kompletten Weg begleitet, ohne sie einziehen zu müssen hatte schon ein wenig Wehmut ausgelöst. So schrieb ich ihr, dass ich beim nächsten Kaffee auf sie warten würde.

Der Camino war gut besucht, aber nicht überfüllt. Dennoch trieb es mich weiterhin nach vorne, an die Spitze. Dort, wo ich im Vorwärtsgang nur mich wahrnehmen konnte.

Ich dachte über Nicole nach, über unseren gemeinsamen Weg. Sie ist eine starke Frau mit sehr positiver Ausstrahlung. Unkompliziert, hilfsbereit und vor allem: ehrlich. Aber auf unserem Weg hatte sich eine ihrer weiteren Eigenschaften nach vorne gemogelt. Eine Eigenschaft, die mich oft begleitet und nicht immer Gutes nach sich bringt: Fräulein Ehrgeiz. Sie dabei zu beobachten und zu sehen, wie Monsieur Stolz und Fräulein Ehrgeiz in ihr Hand in Hand arbeiteten, erfreute mich und machte mich nachdenklich. Wie oft trieb mich der Ehrgeiz, ohne den Stolz nach sich zu ziehen? Warum erlaubte ich mir so selten, stolz auf mich zu sein? Nicole war ehrlich, ja. Auch zu sich selbst. Ich beschloss, diese Erkenntnis mitzunehmen. Verinnerlichen konnte ich sie jedoch noch nicht.

Ich kam an einem Busbahnhof vorbei, der mit Buspilgern übersät war, wie Streusel auf einem Kuchen. Ich ignorierte mein aufkommendes Tötungsbedürfnis und lief mit erhobener Nase vorbei. Manches änderte ich wohl nie. An diesem Platz standen zusätzlich heruntergekommene Etablissements…Puffs, die zum Eintreten heute nur noch wenig einluden.

Das Kaffee ließ sich mit seinem Erscheinen deutlich mehr Zeit, als ich erwartet hatte. Ca. 11 km nach meinem Start entdeckte ich es auf der rechten Seite des Weges. Die Außenplätze waren zwar voll, innen jedoch gähnende Leere. Ich suchte mir einen Tisch nahe am Fenster, um Nicole bei ihrem Eintreffen nicht zu verpassen.

Ich hatte gerade meinen ersten cafe con leche hinter mir, als im offenen Türrahmen Karl und Liza auftauchten. Ich winkte und wir wechselten zu einem Tisch in den Innenhof, der aufgrund des inzwischen vollen Innenraumes wohl geöffnet worden war. Zumindest war mir der Zugang vorher nicht aufgefallen.

Liza und Karl sind Menschen, die sich sofort in mein Herz katapultierten. Liebenswert, lustig und speziell Karl unglaublich entspannend. Dieser Mann lebt sein Leben mit der Weisheit des Alters und der Energie und Lebensfreude eines Kindes. Ich beneide ihn und er wird mir ein Vorbild bleiben.

Liza hatte es vor einigen Tagen schwer getroffen. Sie war Opfer eines fröhlichen Beisammenseins von Bettwanzen geworden. Ihr Körper wies, laut ihrer Aussage, 43 Bisse auf, welche schrecklich brannten.

Das Kaffee füllte sich zunehmend mit Pilgern. Die , die wir unterwegs kennengelernt hatten, setzten sich zu uns und so versammelten sich schließlich allerlei Nationen um zusammengerückte Tische. Ich beobachtete die bunte Gesellschaft und spürte ein warmes Gefühl in der Brust. Glück? Ich denke ja.

Nicole stieß erst über eine Stunde nach meinem Ankommen zu uns. Da die Sonne schon früh ihre Kraft eingesetzt und sie zudem am heutigen Tag noch 3 km vor meinem Startpunkt begonnen hatte, war ihr die Freude über die verdiente Pause anzusehen. Die anderen starteten wenig später und ich blieb bei Nicole, um anschließend den Weg gemeinsam mit ihr fortzusetzen.

Uns begegneten Wandergruppen und unendlich viele Radpilger. Diese hatten uns natürlich schon die Tage zuvor an die Wegesränder gescheucht, nun schienen sie sich jedoch auf dem Camino vermehrt zu haben und passierten uns auf schmalen Wegen oft auf Haaresbreite. Manche hatten Musikboxen angeschnallt und rauschten nun musikalisch untermalt an uns vorbei.

Wir quatschten, …natürlich und get lost, …natürlich!

Als wir den Verlust unseres Caminos bemerkten, befanden wir uns neben eingezäunten Schienen vor bestrübtem und bewaldetem Gelände. Ich hatte die kurzfristig wahnwitzige Idee mich wie Indiana Jones durch das Gestrüpp zu kämpfen, um auf kürzerem Wege zurück auf den Camino zu gelangen. Da Nicole mich jedoch auf den langgezogenen Zaun hinwies, der ein Überqueren der Schienen unmöglich machte, verwarf ich meinen tollen Plan. Auf unserem Rückweg stießen wir auf ein Pilgerpäarchen, welches uns gefolgt war. Diese hatten hinter unserem versehentlichen Verlassen der Strecke eine Abkürzung vermutet. Tja, dumm gelaufen, im wahrsten Sinne.

Eine Ziegenmama mit ihren Zicklein munterte uns kurze Zeit später aber wieder auf.

Ich bekam auf meine Stories in Facebook oder Instagram und auf meinem WhatApp-Status immer wieder Rückmeldungen, die sehr nett gemeint waren, sich aber dennoch falsch anfühlten. Wie auf meinem letzten Camino auch. Ich habe Menschen auf diesen Wegen getroffen, die Unfassbares leisten. Mit körperlichen Behinderungen oder Einschränkungen. Menschen mit Blasen an den Füßen, die ich noch nie in meinem Leben zuvor gesehen hatte, Menschen, die anderen trotz eigener Belastung durch den Camino halfen. Wir sahen stark übergewichtige Frauen und Männer, die sich die steinigen Wege hoch- und wieder runterquälten. Eine junge Frau trug den Rucksack ihrer verletzten Mutter auf ihrem eigenen, damit sie es bis Santiago schafften. Eine junge Frau lief mit ihrem dreibeinigen Hund den Camino Frances und andere trugen ihre geliebten Vierbeiner über unebene Geröllwege. Ein deutscher Pilger mit Beinprotese hatte starke Schwellungen und Abschürfungen an seinem Stumpf und lief dennoch weiter. Männer und Frauen, die die 70 schon weit überschritten hatten, schleppten sich oft gebeugt und langsam über einen Weg, der so vielen Menschen so Vieles bedeutet.

Ich bin eine trainierte Frau mit langen Beinen und einem passenden Gewicht. Ich schnalle mir morgens Rucksack und Schuhe an und laufe. Die Zipperlein, die mich plagen, gehen über die üblichen Pilgerbeschwerden (zumindest auf dem Camino Portugues) nicht hinaus. Ich bin dankbar und freue mich über die positiven und lieb gemeinten Reaktionen. Und dennoch, fühlt es sich nicht richtig an. Könnt ihr das nachempfinden?

Ich hatte ursprünglich vorgehabt Santiago zu überspringen und direkt nach Finisterre und anschließend Muxia zu laufen. Doch die Beine und Füße leiden auch bei sportlichen Menschen. Zumindest, wenn man die Möglichkeit zum regelmäßigen Pilgern nicht hat. Da ich aber als Tanzlehrerin am ersten Arbeitstag fit sein sollte, plane ich mindestens 3-4 Tage zur Regeneration ein und diese Zeit fehlt mir nun.

So zogen wir, bei strahlender Sonne und übermäßiger Hitze, nach Santiago ein und standen auf einem völlig überfüllten Platz vor der Kathedrale. Emotionen blieben aus, zumindest bei mir. Nicole schien nun Ähnliches zu durchleben, was ich im Jahr zuvor gefühlt hatte: Traurigkeit über das Fehlen des eigenen Moments. Die Pilgermassen überforderten sie und ließen sie leise weinen. Ich nahm sie kurz in den Arm und glaubte, ihre Enttäuschung nachempfinden zu können.

Wie alle anderen zückte auch ich mein Handy und nun hatten wir jede Menge Spaß beim Posieren und Schießen unserer Fotos.

Wir übernachteten bei dem Italiener Luca, der uns mit einer Alkohol-Fahne begrüßte, die beim Einatmen beinahe meine Abstinenz gefährdet hätte. Aber er war witzig und sehr temperamentvoll. Italiener halt. Wir ehielten sogar ein durch Trennwände und Vorhänge abgetrenntes ‚Einzelzimmer‘ und dankten im Geiste Karl, der uns diese Übernachtung beim Treffen im Kaffee gebucht hatte.

Außer Wäsche waschen, essen und noch eine Zigarette rauchen ;-), stand nichts mehr auf unserem Plan und so fielen wir früh (ca. 22 Uhr) ins Bett.

Am kommenden Morgen begrüßte mich Nicole mit den Worten: „Hätte nie gedacht, dass es noch jemanden gibt, der lauter schnarcht als du“. Ich wünschte ihr daraufhin auch einen guten Morgen.