10.06.22

Zwei streckenmäßig lange Tage liegen hinter uns. Gestern unfreiwillige 38 km und heute nochmals knappe 30 km. Die unbarmherzige Sonne machte unsere Etappen zeitweise sehr beschwerlich und brannte sich speziell in Nacken und Kniekehlen.

09.06.2022 Früher, frischer Start um 06:00 Uhr.
Nach Vigo folgt eine unschone Strecke duch die Industrie-Landschaft. Da viele Pilger hier den Bus nutzen, liefen wir recht einsam. Bereut haben wir die Eindrücke nicht.
Schöne Plätze und traumhafte Aussichten, jedoch auch brennend heiße und steil ansteigende und abfallende Asphaltstraßen. Die bisher härteste Etappe für meine Knie.
Die lange Etappe verschonte Beine und Füße nicht. Sonnenallergie und geschwollene Gelenke waren die Früchte der 38 km.


Am 09.06.22 landeten wir um 18:30 Uhr schließlich müde und abgeschlagen in Cesantes in der Aubergue O Refuxio de Jerezana mit deutscher Herbergsmutter Maria und 35 fröhlichen Firmlingen inklusive 5 Betreuern. Dort erwartete uns ein Pilgermenue für 10€ und für mich gab es noch ein Eis obendrauf.

Die Nacht war, wie zu erwarten, durchbrochen durch heftige Knieschmerzen und brennende Beine. Nach einer guten Woche Camino hat sich unser Körper an die Strapazen nicht gewöhnt. Da kann man noch so viel Zumba, Dance4Fans, Jive und sonstigen Sport pro Woche betreiben, dies alles schützt vor den üblichen Pilgerbeschwerden eben doch nicht.

Der heutige Morgen lief entspannter an, als wirklich gewollt. Der Frühstücksraum befand sich im Ausnahmezustand und konnte erst nach Verlassen der hungrigen Teenager-Raubtiere betreten werden. Um kurz nach 08:00 Uhr suchten wir uns im hinterlassenen Chaos Teller und Besteck und erhielten von der netten Herbergsmutter noch eigene, saftige Orangen um uns einen Frühstückssaft zu pressen. Ich setzte mich mit dem Rücken zum Kampffeld und wir genossen das noch immer ausgiebige und gute Frühstück. Nach langer Trödelei und Plänkerei mit Maria starteten wir um 10:00 Uhr. Das ist so pilgerpeinlich, dass ich mir kurz überlegt hatte, es zu verheimlichen ;-).

Die anschließende Strecke wurde für mich zur emotionalen Herausforderung. Schon auf dem Camino del Norte hatte ich große Probleme mit den Pilgermassen, welche auf den letzten 100 km plötzlich auf dich hereinbrechen.

Der diesjährige Weg ist nicht annähernd so emotional, wie mein erster. Der C. del Norte hatte im letzten Jahr mein vergangenes Leben in vieler Hinsicht in Frage gestellt und mich tatsächlich sehr verändert. Auf dem diesjährigen Camino lief ich als der Mensch, zu dem ich geworden war. Meine gewonnenen Erkenntnisse änderten sich nicht, meine Wünsche änderten sich nicht. Und dennoch ist auch das Erkennen dieser Tatsachen etwas, was mich mit diesem Weg verbindet und auch hier fühle ich mich wohl. Ihn nun so offensichtlich mit vielen Menschen teilen zu müssen, fällt mir schwer. Erklären kann ich es dennoch nicht.

Ich fühlte mich getrieben oder flüchtend. Selbst Nicole sprach mich fragend auf mein ansteigendes Tempo an.

So lief ich zeitweise an die Spitze der Pilgermeute, bis ich niemanden mehr vor meinen Augen hatte, um das Gefühl einer unwirklichen Einsamkeit zurückzugewinnen. Erst dort löste sich die leicht zugezogene Schlinge um meinen Hals. Verständlich ist mir mein Verhalten hier tatsächlich nicht. Aber mit Verstand hat es wohl auch wenig zu tun.

Dennoch gab es auch auf dieser Etappe fantastische Eindrücke und schöne Landschaftsmomente. Farbenfohe Wandbilder auf grauen Steinwänden in Unterführungen und wunderschöne Waldabschnitte.

Ich kam auf meiner Pilgerflucht zu einem Dudelsack-Spieler, welcher auch allerlei Selbstgemachtes anbot. Hier tummelten sich kaufwilliges, weibliches Pilgervolk und begutachtete die schönen Stücke. Ich verharrte, wartete auf Nicole und das hoffentlich noch erklingende Spiel des Mannes. Nachdem die Kauflustigen mit Erworbenem weiterzogennund nur noch Nicole und ich übrigblieben begann der Mann zu spielen… „My Way“!

Natürlich war diesem Spielmann klar, was er anrichtete, aber ich war ihm dankbar. So standen Nicole und ich mit laufenden Tränen vor ihm und lauschten eine kurze Weile diesen eigentlich sehr quäkenden und doch berührenden Tönen des Dudelsacks.

Ich lief anschließend wieder forsch voraus und ließ den doch längst wieder angestauten Druck per Salzwasser aus meinen Augen laufen.

Wir kamen nach Pontevedra und waren nun schon gute 18 km unterwegs. Dort setzten wir uns im Schatten auf eine Bank, aßen unsere Vorräte und ließen unsere Füße an der frischen Luft atmen. Am Brunnen hinter uns leerten einige Männer ihr wohl nicht erstes Bier und einer von ihnen warf seinen Hund in Abständen immer mal wieder zum Abkühlen in den Brunnen, lief dann eine Runde um diesen herum, fischte den Vierbeiner wieder heraus und ließ sich ihn dann wälzend im Gras trocknen. Ich hoffte nur, dass dies im Sinne des Hundes war. Unglücklich wirkte er zumindest nicht.

Nach unserem Mittagsmahl gönnten wir uns noch einen frozen Joghurt und ich meldete uns bei der einzigen Herberge im Umfeld von 10 km zur Übernachtung an: Ein Matrazenlager in A Portela.

Der Weg wäre ohne die wieder brennende Sonne sicher um einiges besser zu bewältigen gewesen, aber dafür hielten sich An- und Abstiege einigermaßen in Grenzen.

Nach nun ca. 30 Tageskilometern in A Portela angekommen begrüßte uns der spanisch sprechende Petro aus Portugal, der wohl auch der Herbergsvater war. Inzwischen war es 18:50 Uhr und wir sputeten uns, um noch frisch geduscht mit den anderen Pilgern gemeinsam zu Abend essen zu können. Am langen gedeckten Tisch saßen um Punkt 19:30 Uhr Holländer, Kroaten, Franzosen, Kanadier, Amerikaner und Deutsche zusammen und ließen sich Spagetti und spanische Tortilla de Patata schmecken. Dazu Bier, Wein und für mich ne Cola 😉.

Zwei Hirschkäfer befanden sich direkt vor unserem Schlafraum ☺️

Nun sind es noch ca. 60 km bis Santiago. Ursprünglich wollte ich dieses Jahr dort gar nicht einziehen. Mehrere Gründe bewegen mich, es eventuell doch zu tun. Möglicherweise schon in zwei Tagen. Doch der morgige Tag bringt wieder Sonne. Und diese soll stärker brennen, als die Tage zuvor.