Pilgrims zweiter Klasse
06.06.2022
Um 05:30 Uhr klingelte mein Wecker und ich huschte ins Bad. Als ich dies wieder verließ, lag Nicole ebenfalls schon wach im Bett und rieb sich die leicht verschlafenen Augen.
Währenddessen ich ab und zu zum Schnarchen neigte, bediente sich Nicole unfreiwilliger Weise der nächtlichen Pfeif- und Quietschatmung, was ich ihr natürlich sofort mitteilte. Da ihre letzte Ölung jedoch hoffentlich noch einige Jahre Zeit hatte, beschlossen wir, uns nun auf unsere nächsten 30 km vorzubereiten.
Das Wetter war unserem Sonnenbrand gegenüber gnädig bewölkt und es lief sich angenehm. Wir hatten nun nur noch wenige Kilometer in Portugal zu bewältigen und ließen es entspannt angehen. Kurz vor dem Rio Minio, der Spanien von Portugal trennt, beschäftigte uns die Überlegung, wie wir wohl übersetzen könnten, da die offizielle Fähre nicht fuhr. Nicole hatte etwas von einem Mario gehört, welcher wohl am Praia do Camarino Pilger mit seinem Boot nach Spanien brachte. Wir liefen allerdings in die entgegengesetzte Richtung, was wir jedoch erst realisierten, als eine junge Österreicherin zu uns stieß, die unsere Vermutung mit einer Visitenkarte von Mario (welche man ihr zugesteckt hatte) bestätigte. Wir beschlossen nun zu dritt umzukehren und liefen plaudernd zurück. Auf einem Mäuerchen saß ein älterer Herr, welcher uns zuwinkte und von Nicole als Mario erkannt wurde. Er fuhr uns die Reststrecke für 2€/ Nase bis zu seinem Boot und übergab uns dort in die Hände seines Bruders. Für weitere 5€ ging es in voller Fahrt Richtung Spanien.

Nun waren wir zu dritt! Verrückt, wenn man bedenkt, wie wichtig mir die einsame Zeit auf dem Camino del Norte gewesen war. Ich hatte die letzte Zeit in Gesellschaft genossen und auch Sylwia bereicherte unsere kleine Gruppe. Dennoch fühlte ich, dass ich schon bald Zeit für mich alleine brauchen würde. Vielleicht sogar schon brauchte. Für einen kurzen Moment entstand auf unserem heutigen Weg genügend Lauf-Distanz um das deutlich zu erkennen. Wie im Jahr zuvor wollte ich versuchen, einige Etappen alleine zu gehen. Die gemeinsame Zeit lenkte mich von Gedanken ab, war spaßig und die Wege gefühlt kürzer. Aber ich musste Einiges hierlassen, um gestärkt zurückkommen zu können. Wollte den Druck auflösen, welcher sich wieder angestaut hatte. Das war der Plan. Deshalb war ich hier.
Die spanische Seite ließ mein landschaftliches Herz hüpfen. Rechts erhoben sich die stolzen Berge, links spielte der Atlantik mit der felsigen Küste. Ich weiß, dass ich mich wiederhole: Ich war zu Hause! Natürlich nicht real- nur emotional. Das sind Momente, die ich leider nicht nachvollziehbar beschreiben kann. Wäre ich in diesem Augenblick allein gewesen, ich hätte mich sicher mitten auf den Weg gestellt und leise geweint. Druck abgelassen. Woher kommt das? Und wann hört das endlich auf?
Der Tag blieb angenehm frisch und obwohl ich inzwischen leider wieder leicht humpelte, kamen wir gut und zügig voran. Die wenigen Steigungen waren gut zu bewältigen und freuten mich. Ich bin nunmal kein Flachland-Wanderer.

Unsere Herberge LaCala in Oia ist fantastisch! Eine sehr freundliche Herbergs-Mutter, Kaffee, Frühstück, Waschmaschine und Trockner sind inklusive, dazu frische Bettwäsche und Handtücher.
Nachdem wir speziell Waschmaschine und Trockner ausreichend genutzt hatten, meldete sich -zumindest mein Magen- äußerst agressiv. Wir tingelten um 19:45 Uhr zu einem Restaurant, welches allerdings erst um 20:00 Uhr öffnete. Davor trafen wir auf einen gut gekleideten, schottischen und zwei ebenso adrett ausgerüstete Kanadier- offensichtlich ein Paar. Der Platz vor dem Restaurant füllte sich mit hungrigen Menschen aller möglichen Nationalitäten. Es drohte voll zu werden und so beschlossen wir ins angrenzende Restaurant zu wechseln. Von außen durch Muscheln für Pilger einladend gekennzeichnet, wurde diese Pilgeefreundlichkeit leider innen nicht gelebt. Im Gegenteil. Wir saßen zu sechst um einen Tisch, die unteren drei Stühle besetzten die gut gekleidetet Kanadierin (ursprünglich aus Columbien) mit ihrem Mann und dem gutaussehenden Schotten, am oberen Ende tronte die ungeschminkte Restekleidungs-Pilgretation: Sylwia, Nicole und ich. Unfassbar, wie deutlich unverholen unser ,Maitre‘ zwischen den zwei Tischseiten unterschied. Während unsere Geduld nun schon bei der Aufnahme der Getränke auf eine harte Probe gestellt wurde, nahm er auf der 1.Klasse-Seite freundlich die Essensbestellung auf und ignorierte unsere laut gnurrenden Mägen in Klasse 2. Als ich dann nach weiteren quälenden Minuten das Zepter in die Hand nehmen wollte und mit einem energischen “Sorry…“ neben ihm am Eingang zur Küche stand, unterbrach er mich schroff und verwies mich mit ausgestrecktem Zeigefinger auf meinen Platz. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich an dieser Stelle das Restaurant verlassen.
Zu allem Ärger bekam ich nun trotz expliziter Nachfrage auch noch ein Bier mit 1% als 0,0 verkauft, wofür sich daraufhin Nicole opferte, da mein Hirn nach zwei kurzen Schlucken rebellierte. Gut so!
In Klasse 1. wurde festlich dinniert mit Fisch, Salat und Rotwein. Klasse 2. trank überwiegend Wasser und aß einen Salat in dreifacher Ausfertigung (der Fisch hatte einen horenden Preis). Der Höhepunkt der herablassenden Behandlung durch Monsieur Maitre Arschloch (ja, solche Wörter kursieren zumindest durch meine lautlosen Gedanken) war die Bezahlung. Während in Klasse 1 nun freundlich abkassiert wurde (im wahrsten Sinne des Wortes) wurden unsere Zeichen offensichtlich ignoriert. So zählte ich ruhig meinen zu zahlenden Preis bis zum letzten Cent ab und rief ihm bei nächster Gelegenheit laut und unüberhörbar zu, dass wir nun endlich zahlen wollten. Ich bitte zu beachten, dass wir alle 6 tatsächlich zusammen an EINEM Tisch saßen und es auch offensichtlich war, dass wir, zumindest für diesen Abend, zusammengehörten. Ich halte mich nicht für pingelig, im Gegenteil. Aber für dieses Verhalten fehlt mir jegliches Verständnis.
Der Ausgleich zu unserem unfreundlichen Maitre (der Name stammt übrigens von Nicole) schafften unsere guten Gespräche und die sehr interessante Gesellschaft unserer ,Luxus-Pilger‘. Wir deutschsprachigen Mädels grübelten, wie es sein könne, dass diese drei so herausgeputzt den Abend genießen konnten und so fragte ich spontan unseren Holländer: „Sorry, what kind of Pilgrims are you?“ Die Dreiergruppe lachte und erzählte, dass sie ihre Koffer über einen Service vorfahren lassen würden und Abends in vorgebuchten Hotels abstiegen. Sie hätten großen Respekt vor Pilgern, die ihre gesamten Camino-Utensilien auf ihren Rücken trugen, aber für sie selbst wäre dies keine Option. Nicole erklärte verständnisvoll, dass jeder die Art seinen Weg zu beschreiten ja selbst bestimmen sollte und dies völlig okay wäre. Sie waren sich alle einig, dass dies ja keinen Unterschied mache. Ich sah unserem Schotten in die Augen und meinte: „Wenn wir dies Restaurant nachher verlassen haben, hassen wir euch!“ Die Gruppe lachte wieder und ich grinste in mich hinein. Denn, um ehrlich zu bleiben, wertete ich unsere unterschiedlichen Weges-Voraussetzungen sehr wohl. Jede Last mehr auf den Schultern und jeder Schmerz mehr in den Beinen, jede Entbehrung, die ich für diesen Weg auf mich nahm, brachte mich ihm und meiner Seele näher. Wir waren in keinster Form gleich, denn sie waren (in meinen Augen) sehr sympathische Wander-Urlauber, keine Pilger. Und diesen Unterschied hatte nicht nur der Maitre erkannt.
Wir, oder zumindest ich, denn für die anderen kann ich nicht sprechen, war satt und nun auch etwas müde. Nicole und ich zogen uns somit in unser 3-Bett-Zimmer zurück, während Sylwia noch auf das hiesige große Fest ging, dass mit seiner lauten, aber auch fantastischen Musik noch bis in die späte Nacht an meine Ohren drang. Diesmal schlief Nicole wie ein Baby, ungeölt und dennoch ganz still…
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